Viele Werke, die heute zu den Klassikern des internationalen Konzertrepertoires gehören, mussten ihren Platz in der Musikgeschichte regelrecht erstreiten. Sie lösten Tumulte aus, provozierten Zensur und spalteten das Publikum. Im Rahmen des Saisonschwerpunkts »Kontrovers!« und dem dazu passenden Flex-Paket widmen sich die Berliner Philharmoniker diesen ästhetischen und gesellschaftlichen Reibungen – unter anderem mit drei Werken, deren Geschichte eindrücklich zeigt: Oft ebnet erst ein Skandal den Weg für eine neue Klangsprache.
Als sich im Frühjahr 1913 die Pariser Gesellschaft im Théâtre des Champs-Élysées versammelte, waren die Erwartungen hoch: Die Ballets Russes mit dem Choreografen Vaslav Nijinsky galten als Inbegriff ästhetischer Raffinesse – berühmt für exotische Themen, brillante Tänzer*innen und ein opulentes Bühnenbild. Doch bereits der erste Ton des Stückes, das unter dem Titel Le Sacre du Printemps als heidnische Frühlingsweihe angepriesen war, ließ das Publikum empört aufhorchen.
Ein Fagott in unbequem hoher Lage machte den Auftakt eines musikalischen Werkes, das sich mit archaischer Wucht, polyrhythmisch verschachtelt, zu einem Orchesterklang auftürmte, der sich dezidiert von bisher gekannter Klangästhetik abwendete. Inmitten dieses eruptiven Klanggebräus entfaltete sich eine Choreografie, die mit klassischer Ballettästhetik kaum noch Berührung hatte: kantige Gesten, stampfende Füße und gebückte, teils verkrümmte Körper bestimmten das Geschehen auf der Bühne.
Diesem Stück, das später als ein Erdbeben musikalischer Konventionen in die Musikgeschichte eingehen sollte, lag ein Traum Igor Strawinskys zugrunde: In seiner Vision eines mythischen Opferkults beschwor eine junge Frau den Frühling herauf – tanzend, bis zur völligen Erschöpfung, bis in den Tod. Dieses archaische Sujet, fern aller höfischen Anmut, gepaart mit der skurrilen, scheinbar chaotischen Musik, brachte das Publikum derart aus der Fassung, dass die Vorstellung in Tumulten versank: Hohngelächter, empörte Zwischenrufe, Pfiffe, sogar Fäuste sollen geflogen sein.
Strawinsky selbst floh angeblich während der Aufführung hinter die Bühne und zog sich für Wochen zurück. Doch das kontroverse Echo des Stücks trug seinen Namen in die ganze Welt. Le Sacre du Printemps wurde zu einem der Schlüsselwerke der musikalischen Avantgarde – und Strawinsky mit ihr zur Ikone der Moderne.
Dreizehn Jahre nach dem berüchtigten Pariser Sacre-Skandal rückte ein weiteres Musiktheaterwerk ins Kreuzfeuer bürgerlicher Empörung. Diesmal war es Béla Bartók, der mit seiner Tanzpantomime Der wunderbare Mandarin die Grenzen des Darstellbaren ausreizte – und damit den moralischen Kompass einer Gesellschaft aus dem Gleichgewicht brachte.
Die Grundlage zu diesem Stück lieferte der ungarische Schriftsteller und Dramatiker Menyhért Lengyel: Eine junge Frau wird von drei Gaunern gezwungen, Freier in ein heruntergekommenes Zimmer zu locken, um sie auszurauben. Zwei Überfälle gelingen – doch das dritte Opfer, ein reicher chinesischer Mandarin, entzieht sich jeder Gewalt. Weder Ersticken, Erstechen noch Erhängen können ihn töten. Erst als die Frau sich ihm freiwillig nähert, verblutet er in ihren Armen.
Fasziniert von dieser düsteren Großstadtparabel entwarf Bartók eine Musik, die den damaligen Erwartungen einer bürgerlichen Konzerterfahrung diametral gegenüberstand. Schneidende Dissonanzen, grelles Blech und explosive Entladungen formen das akustische Porträt einer lärmenden, entmenschlichten Metropole. Das Schlagwerk pulsiert wie ein Herz im Maschinenraum, jazzhafte Einsprengsel blitzen auf wie grelle Neonlichter. Die groteske Überzeichnung, das konsequente Brechen harmonischer und metrischer Erwartungen – all das lässt Parallelen zu Strawinskys Sacre erkennen.
Entsprechend ähnlich fielen die Reaktionen bei der Uraufführung am 27. November 1926 in Köln aus. Pfiffe und Buhgesänge hallten durch den Saal, Türen knallten nach dem fluchtartigen Verlassen des Saals. Die Presse überschlug sich mit Schmähungen, sprach von einem »Dirnen- und Zuhälterstück mit Orchestertamtam« und einem »Kaschemmenstück niedrigster Art«. Schon längst war das Stück in der katholischen Domstadt zum Politikum geworden – die Stadtverwaltung unter Oberbürgermeister Konrad Adenauer ließ es kurz darauf wegen seiner »unsittlichen Handlung« verbieten.
Bartók jedoch hielt unbeirrt an seiner Komposition fest, die er als eine seiner bedeutendsten Orchesterarbeiten verstand. 1928 fertigte er aus dem Material eine konzertante Suite, die bis heute zu den Hauptwerken des musikalischen Expressionismus gehört.
Auch Richard Wagner sorgte für einen Eklat mit seiner Musik. 1861 sollte er an der Pariser Grand Opéra mit seiner Oper Tannhäuser endlich den ersehnten internationalen Durchbruch feiern. Doch das Haus, das Künstlern Weltruhm versprach, hatte seine eigenen starren Regeln – darunter die unverrückbare Verpflichtung zu einem Ballett im zweiten Akt. Wagner jedoch widersetzte sich dieser Tradition: Statt ein traditionelles Ballett im zweiten Akt zu integrieren, platzierte Wagner ein sinnliches Bacchanal bereits zu Beginn der Oper – ein bewusster Bruch mit den Erwartungen des Pariser Publikums.
Sein künstlerischer Eingriff hatte weitreichende Folgen: Die Mitglieder des einflussreichen Jockey-Clubs – eine Bastion der Pariser Oberschicht – war es gewohnt, erst zur Ballettszene zu erscheinen, die sie traditionell im zweiten Akt erwarteten. Der Boykott war entsprechend vorprogrammiert. Als durchorchestrierte Störaktion wurde Tannhäuser mit Trillerpfeifen sabotiert, Zwischenrufe und Bodentrampeln komplettierten den Affront.
Dabei hätte gerade die Stadt der Liebe für die Geschichte der Oper empfänglich sein müssen: Im Zentrum steht der Sänger Tannhäuser, einst Gast im Liebesreich der Göttin Venus, der in der Sehnsucht nach Erlösung zurück in die menschliche Welt kehrt. In der Wartburg trifft er auf Elisabeth – eine Frau, die ihn liebt und für ihn einsteht. Beim Sängerwettstreit preist Tannhäuser jedoch die Sinnlichkeit der Venus – ein Tabubruch, der ihn aus der Gemeinschaft ausschließt. Er macht sich als reuiger Pilger auf nach Rom, um vom Papst Vergebung zu erbitten – doch dieser verweigert sie ihm. Als Tannhäuser heimkehrt, ist Elisabeth gestorben. Ihr Opfer wird zur spirituellen Wende: Tannhäuser stirbt – und findet im Tod die ersehnte Erlösung.
Die innere Spannung Tannhäusers zwischen himmlischer Andacht und irdischer Begierde spiegelt sich in der Musik Wagners. Während im Venusberg betörend sinnliche Klangfarben dominieren, ist die Wartburg kompositorisch von Ordnung und sakraler Würde charakterisiert. Leitmotive durchziehen das Werk wie unsichtbare Fäden und geben dem Seelenkampf des Protagonisten eine eindringliche Stimme: eine Musik der ständigen Bewegung, der Suche und des Kontrasts.
Desillusioniert, verletzt und voller Zorn verließ Wagner nach dem Skandal um Tannhäuser die Stadt. Den Aufenthalt sollte er später als eine der bittersten Enttäuschungen seines Lebens bezeichnen.
Der Kampf um die Musik
Unser Themenschwerpunkt für die Saison 2025/26 »Kontrovers!«
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