Von: Tobias Möller
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Leben wir in der zerstrittensten aller Welten? Mit unserem Saisonschwerpunkt Kontrovers! reflektieren wir die aktuelle Debattenkultur aus der Perspektive der Musik. Denn auch hier wird seit Jahrhunderten um den richtigen Kurs gerungen. Etwa wenn Mendelssohn meinte, man müsse sich nach der Lektüre einer Berlioz-Partitur die Hände waschen. Oder Brahms, der Bruckners Werke für »einen Schwindel« hielt. Sie alle trifft man in spannenden Gegenüberstellungen.

Der Satz »Das wird man doch wohl noch sagen dürfen!« ist zu einem Sinnbild unserer Zeit geworden. Nicht nur Empörung vermittelt er, sondern auch eine Verunsicherung, die weit verbreitet ist. Hatten 1990 noch 78 % aller Deutschen den Eindruck, man könne seine Meinung frei äußern, waren es 2023 gerade 40 %. Wirkliche Angst vor juristischen Konsequenzen haben wohl die wenigsten. Es geht um etwas anderes: um die Erfahrung, mit einer als plausibel empfundenen Ansicht auf unerwarteten, entschiedenen Widerspruch zu stoßen. Dazu braucht es kein großes politisches Thema – wer einmal eine Diskussion über das Gendern miterlebt, wird sich wundern, mit welcher Leidenschaft man über Sternchen und Partizipialkonstruktionen streiten kann. Technologie, gesellschaftliche Normen, internationale Krisen: Unsere Welt verändert sich so schnell, dass sich viele Menschen konstant herausgefordert fühlen. Dieses Gefühl, dieser Stress scheint alle öffentlichen Diskussionen zu prägen. Verständlich also, wenn man den Eindruck gewinnt, dass wir in der zerstrittensten aller Welten leben.

Aber ist das wirklich so? Mit unserem Themenschwerpunkt Kontrovers! wollen wir in der Saison 2025/26 unsere Debattenkultur aus der Perspektive der Musik spiegeln. Denn machen wir uns nichts vor: Das gnadenlose Ausfechten gegensätzlicher Standpunkte steckt so tief im Menschen, dass es zu allen Zeiten und bei allen Themen hervorbrechen kann – auch in der Musik. »Seine Instrumentierung ist so entsetzlich schmutzig, dass man sich die Hände waschen muss, wenn man mal eine Partitur von ihm in der Hand gehabt hat«, empörte sich Felix Mendelssohn Bartholdy über Hector Berlioz, und man spürt, dass dies nicht einfach ein Wettbewerb um die »schönere« Musik war. In den großen ästhetischen Diskussionen wurde und wird immer auch die Frage verhandelt, wie es generell weitergehen soll: ob eben in der Frühromantik der ausbalancierte Klassizismus eines Mendelssohn die Richtung bestimmt oder der alle Normen sprengende Stil eines Berlioz. Es geht, wie in aktuellen Diskussionen, um den eigenen Platz in der Welt – es geht um Identität.

Es geht um den eigenen Platz in der Welt

Es ist eine Identitätsfindung, die man in diesem Schwerpunkt hören und damit sinnlich nachvollziehen kann – etwa wenn Tugan Sokhiev mit den Berliner Philharmonikern Mendelssohns formvollendete Hebriden-Ouvertüre mit Berlioz’ exzessiver Symphonie fantastique kontrastiert. Unverzichtbar ist auch der Blick auf die zentrale Auseinandersetzung des 19. Jahrhunderts zwischen Johannes Brahms und Franz Liszt: der eine Erbe und Weiterentwickler der klassischen Gattungen, der andere Pionier der auf literarischen Vorlagen aufbauenden symphonischen Dichtung. Michael Sanderling stellt dazu Brahms’ Klavierquartett Nr. 1 (in der Orchestrierung von Arnold Schönberg) neben Liszts Mephisto-Walzer Nr. 1, der eine Faust-Szene schildert. Die hier verkörperten Konzepte erschienen ihren Vertretern völlig unvereinbar. Brahms empfand »all das Zeug […], die ›symphonischen Dichtungen‹ und dergleichen« als etwas, das »dem innersten Wesen der Musik zuwider« sei und das man nur »beklagen und verdammen« könne; Liszt hingegen verachtete Komponisten, die »knechtisch und gedankenlos die leeren Formen nachbilden«. 

Dass auch in der Barockmusik heftig um den richtigen Kurs gerungen wurde, zeigt ein Programm mit Emmanuelle Haïm, das den eleganten Bühnenwerken Jean Baptiste Lullys die hochemotionale Dramatik Jean-Philippe Rameaus gegenüberstellt. Auch Jordi Savall präsentiert den zu Lebzeiten als Umstürzler geltenden Rameau, und zwar einem musikalischen Doppelporträt mit Christoph Willibald Gluck, dem zweiten Theaterrevolutionär des 18. Jahrhunderts. Lully, Rameau, Gluck: Sie alle haben heute den Status von Klassikern – zu ihrer Zeit hingegen standen sie im Zentrum wahrer Kulturkämpfe.

Andere Konzerte mit den Berliner Philharmonikern kommen Fernduellen gleich: Percy Grainger, Sergej Prokofjew und John Adams suchen in einem Programm mit Simon Rattle nach einer Tonsprache des 20. Jahrhunderts, die ohne Arnold Schönbergs Zwölftonmusik auskommt, bei Daniele Gatti reanimieren Johannes Brahms und Igor Strawinsky auf verschiedenen Wegen die Gattung der Symphonie. Charles Ives und Antonín Dvořák schließlich machen sich in von Lahav Shani dirigierten Konzerten mit denkbar gegensätzlichen Konzepten an die Erfindung eines amerikanischen Musikidioms.

Explizit politisch

Zwei Programme haben eine explizit politische Konnotation: Mirga Gražinytė-Tyla porträtiert mit Sergej Prokofjew und Mieczysław Weinberg zwei Komponisten, die mit unterschiedlichen Haltungen den Terror des Stalinismus überlebten: Prokofjew mit einer Geschmeidigkeit, die oft an Opportunismus grenzte, Weinberg als überzeugter Kommunist, der er auch blieb, nachdem Stalin seinen Schwiegervater ermordet und ihn selbst inhaftiert hatte. Ein revolutionäres Programm liefert Gustavo Dudamel: Beethovens »Eroica« feiert im Nachgang zur Französischen Revolution den freien Menschen, Gabriela Ortiz’ kürzlich mit einem Grammy ausgezeichnetes Werk Revolución diamantina thematisiert den feministischen Protest gegen die anhaltende Gewalt an Frauen in Mexiko. Die Kontroverse ist hier also keine innermusikalische, sie besteht zwischen den Werken und der sie jeweils umgebenden Lebenswirklichkeit.

Eine Sonderstellung innerhalb des Themenschwerpunkts nehmen Werke ein, die für die drei großen Theaterskandale der Musikgeschichte stehen. Diese konkurrierten nicht mit Alternativkonzepten anderer Komponisten, sondern verstießen grundsätzlich gegen alle Normen. Chefdirigent Kirill Petrenko ist mit Béla Bartóks Tanzpantomime Der wunderbare Mandarin vertreten, die nach ihrer Kölner Uraufführung wegen ihres angeblich dekadenten Sujets vom damaligen Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer verboten wurde. François-Xavier Roth dirigiert Strawinskys Ballettmusik Le Sacre du printemps, das sicher berühmteste Skandalwerk der Musikgeschichte. Bis zu Schlägereien steigerte sich Gegenwehr des Publikums – so sehr fühlte es sich von der archaisch stampfenden Musik provoziert. Von Richard Wagner ist im Konzert mit Daniel Harding die Ouvertüre zum Tannhäuser zu hören, der bei Pariser Aufführungen ein Protestkonzert aus Trillerpfeifen auslöste. Das Entertainment erwartende Pariser Opernpublikum und der kompromisslose Theaterreformer Wagner: Das konnte nicht gut gehen.

Nicht nur in Orchesterkonzerten zieht sich der Themenschwerpunkt durch die Saison. So fechten Brahms und Liszt – beide große Pianisten – ihre Kontroverse auch in einem Klavierabend mit Kirill Gerstein aus. Das Barock-Wochenende im Februar 2026 lässt nacherleben, wie am Ende der Renaissance um das »richtige« Komponieren gestritten wurde, außerdem gibt es dramatische Szenen, die Konflikte mit den Ausdruckmitteln des Barock auf die Bühne bringen: von Monteverdis Kampf zwischen Tancredi und Clorinda bis zu einem Abend mit Eifersuchtsarien. Unsere Gesprächsreihe Diskurs in der Philharmonie wiederum geht der Frage nach, wie wir mit der Unversöhnlichkeit unserer Zeit umgehen.

Schostakowitsch vs. Schönberg, Bruckner vs. Brahms

Vor allem die Kammermusikreihe mit Ensembles der Berliner Philharmoniker widmet sich dem Kontrovers!-Thema, wobei zweimal Dmitri Schostakowitsch und Arnold Schönberg aufeinandertreffen. Schostakowitsch war der große Ausdrucksmusiker des 20. Jahrhunderts, dessen Werke sich emotional, drastisch und oft ironisch geben. So musste ihm Schönbergs komplexe Idee der Zwölftonmusik fremd bleiben, die für Schostakowitsch ein »inhaltsloses Spiel mit Klängen« war, »verrwirrt und geistlos«. Und wieder ist zu ahnen: Neben dem Urteil über einen Kollegen geht es auch um die generelle Frage, ob man selbst für die Zukunft wohl noch relevant sein werde. 

Weitere Abende der Reihe thematisieren die Antipoden Bruckner und Brahms (»Bei Bruckner handelt es sich nicht um Werke, sondern um einen Schwindel, der in ein bis zwei Jahren tot und vergessen sein wird«), wir reisen ins Paris des späten 19. Jahrhunderts, wo die französischen Komponisten darum kämpften, ihre Musik gegen die Vormacht des deutschen Repertoires durchzusetzen, und auch der berühmteste Konflikt der Musikgeschichte darf nicht fehlen: der zwischen Wolfgang Amadeus Mozart und Antonio Salieri. Schließlich kommt ein Versöhner unter den Komponisten zu Wort: Joachim Raff, der sich in seinen Werken um einen Ausgleich zwischen Brahms- und Liszt-Schule bemühte. Die Musikgeschichte hat es ihm nicht gedankt: Raffs Schaffen ist heute weitgehend – und sehr zu Unrecht – vergessen.

Was kann man nun aus all diesen Gegenüberstellungen mitnehmen? Zunächst einmal die Chance auf ein intensiviertes Hören. Denn gerade im Kontrast zeigt sich das Spezifische einer Tonsprache. So lässt sich Mozarts Einzigartigkeit in der Nachbarschaft zum doch nicht ganz so genialen Salieri neu erleben. Ebenso wird das Individuelle an Dvořáks Suche nach einer amerikanischen Musik umso deutlicher, wenn man daneben die ganz andere Herangehensweise eines Charles Ives hört.

Darüber hinaus zeigt der Themenschwerpunkt Kontrovers! nicht nur die Unversöhnlichkeit, sondern auch die produktive Kraft, die in den großen Debatten der Musikgeschichte steckt. Aus ihnen sind in den seltensten Fällen einzelne Sieger hervorgegangen – was eine positive Botschaft ist. Denn es ist natürlich gut, dass nicht allein Schönbergs oder Schostakowitschs Kunst überlebt hat, dass wir uns nicht zwischen Symphonie und symphonischer Dichtung entscheiden müssen. Wie dieser Schwerpunkt zeigt, hat sich die Musik nicht linear entwickelt, sondern in einer Verästelung unterschiedlichster Ideen. Eben das macht ihren Reichtum aus.