»Mit großer Freude«

Im Porträt: Kirill Petrenko, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker

(Foto: Stephan Rabold)

Seit der Saison 2019/20 ist Kirill Petrenko Chefdirigent und künstlerischer Leiter der Berliner Philharmoniker. Ein Porträt

Meiningen, München, Berlin – drei Orte, mit denen Kirill Petrenko in seiner bisherigen Laufbahn als Dirigent besonders eng verbunden ist: die kleine thüringische Residenzstadt, in der er 2001 Wagners Ring des Nibelungen an vier aufeinanderfolgenden Abenden zur Premiere brachte; die bayerische Metropole, deren renommierter Staatsoper er neue Höhenflüge bescherte; und die deutsche Hauptstadt, in die er – nach fünfjähriger Amtszeit als Generalmusikdirektor der Komischen Oper (2002–2007) – nun wiederkehrt, um die künstlerische Leitung der Berliner Philharmoniker zu übernehmen.

»Geboren und aufgewachsen bin ich in Omsk, einer Stadt in Sibirien, die von Waffenindustrie und Petrochemie lebte – deswegen war sie auch für Ausländer tabu, eine ›geschlossene Stadt‹. Die Chemie war nicht sehr gesund, aber es gab auch viel Grün in der Stadt. Nur nicht im Winter, da herrschte klirrende Kälte. Manchmal fiel deshalb die Schule aus: Die Kleineren durften ab minus 34 Grad zu Hause bleiben, die Großen mussten noch bis minus 38 Grad frieren.«

Als Kind einer Musikerfamilie – der Vater Konzertmeister, die Mutter Dramaturgin – stand für Kirill Petrenko quasi von Geburt an fest, dass auch er Musiker, ja Dirigent werden sollte und bereit war, alles zu tun, damit sich seine bald erweisende Begabung entfalten könne. Von Omsk ging es (mit gerade 18 Jahren) nach Feldkirch, vom dortigen Konservatorium an die Musikuniversität in Wien, vom Abschlusskonzert direkt als Repetitor und Kapellmeister an die Wiener Volksoper. Dann kam, 1999, der Ruf als Generalmusikdirektor ans traditionsreiche Meininger Theater und damit auf Jahre hinaus zunächst eine Laufbahn als Operndirigent. In drei Städten war Kirill Petrenko musikalischer Leiter von Opernhäusern, das Musiktheater stand bislang unzweifelhaft im Zentrum seines Wirkens – obwohl sein Berufswunsch anfangs eigentlich der Symphonik gegolten hatte. Doch der Fachwechsel innerhalb des Metiers war ein Zufall, der sich als Glücksfall erwies.

»Meine Meininger Zeit ist die Basis für meine ganze darauffolgende Karriere gewesen. Es waren unschätzbare Lehrjahre. Etwas Besseres kann einem Dirigenten nicht passieren, und ich wünsche jedem jungen Kollegen, auf diese Weise Erfahrung sammeln und sich ein Fundament schaffen zu können. Ich habe sehr viel Glück gehabt, dass ich in Meiningen beginnen durfte.«

Geschichtenerzähler mit Tönen

Sein ursprüngliches Ziel hat er dabei nie aus den Augen verloren. Viele symphonische Programme an den eigenen Theatern und stetes Gastieren bei immer prominenteren Orchestern sorgten dafür, dass neben dem Opern- auch das Konzertrepertoire zur Geltung kam. Mehr noch: Die Erfahrung mit szenischer Musik wurde zu einem integralen Bestandteil von Kirill Petrenkos Musizieren, sie beeinflusst seine Interpretation auch von wort- und programmlosen Werken und macht ihn zu einem Geschichtenerzähler mit Tönen:

»Weil auch die Entstehung eines Gefühls immer mit einer Geschichte verbunden ist. Wir können uns nicht vom Umfeld lösen und uns rein musikalisch mit Klängen beschäftigen. Es gibt einfach historisch und sozial Verbindungen, die in die Musik einfließen und die man wieder hervorholen muss, wenn man sie interpretiert.«

Meiningen, München, Berlin: Schon durch Weg und Wirken Hans von Bülows (1830–1894) haben diese drei Orte eine enge Beziehung zueinander. Der vormalige Münchner Hofkapellmeister hat mit einem Gastspiel seines Meininger Orchesters die Musiker der Bilse’schen Kapelle zur Gründung des Berliner Philharmonischen Orchesters inspiriert und wurde später zu ihrem ersten Chefdirigenten berufen. Durch Kirill Petrenko wird dieses Geflecht mit einem weiteren Faden verdichtet.

Kirill Petrenko mit Peter Tschaikowskys Sechster Symphonie »Pathétique«

»Ich bin ja doch privilegiert, denn ich folge auf meinem Weg Bülow. Er war zuerst in München, dann in Meiningen, dann in Berlin; bei mir ist die Reihenfolge ein bisschen anders, aber ich fühle mich durch meine Arbeit mit der Meininger Hofkapelle und an der Staatsoper in München seiner Tradition sehr verbunden. Ich habe überall Partituren mit seinen Eintragungen studiert: Brahms in Meiningen, Wagner in München, und ich beschäftige mich ganz intensiv mit seinen Beethoven-Interpretationen.«

Bülow hat seine erste Meininger Spielzeit ausschließlich dem Schaffen Beethovens gewidmet. In Kirill Petrenkos erster Saison als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker hat Beethoven ebenfalls ein besonderes Augenmerk gegolten, schon allein durch das weithin beachtete Saisoneröffnungskonzert zu seinem Amtsantritt mit der Neunten Symphonie, erst im Großen Saal der Berliner Philharmonie, dann kostenlos unter freiem Himmel vor 35.000 Zuschauern am Brandenburger Tor, live übertragen im Fernsehen und in ausgewählten Kinos. Auch einige weitere Schwerpunkte seiner Arbeit in Berlin zeichnen sich bereits ab: die Symphonien Gustav Mahlers, die deutsch-österreichische Musiktradition (von Mozart und Beethoven über Mendelssohn, Brahms, Strauss, Korngold bis zu Berg und Webern), russische Klassiker (Tschaikowsky, Rachmaninow, Prokofjew, Strawinsky), Werke des 20. und 21. Jahrhunderts (Ives, Weill, Xenakis, Norman und als erste von mehreren bereits geplanten Uraufführungen ein Werk von Anna Thorvaldsdottir), der Komponist Josef Suk (nach der Symphonie Asrael nun die symphonische Dichtung Ein Sommermärchen)  – Schwerpunkte, die sich in Repertoireauswahl und Interpretation der spezifischen Geschichte des Orchesters stellen.

Beethoven, Mahler, Suk

»Ich versuche auch zu verstehen, was für eine besondere Erscheinung Wilhelm Furtwängler am Dirigentenhimmel war, ich höre mit Begeisterung seine Aufnahmen – denn auch wenn sich seine Interpretationsansätze von meinen unterscheiden, hat Furtwängler den Berliner Philharmonikern ihr Gen eingepflanzt, das vielleicht bis heute noch spürbar ist. Herbert von Karajan war wie ich viele Jahre in der Provinz und hat dort sein Können entwickelt; auch er kam von der Oper her, war ein Praktiker par excellence, er hat sich mit der Materie bis ins Detail ausgekannt. Darin ist er mir ein großes Vorbild – obwohl ich genauso wie bei Furtwängler in vielen Dingen anderer Ansicht bin, etwa was die Tempi betrifft, Artikulation und Klang.

Das ist ganz natürlich – wir leben in einer anderen Zeit, wir fühlen uns auf andere Art den Quellen verpflichtet, weniger einem allgemeinen klanglichen Schönheitsideal; das ist auch gut, denn nur so entwickeln wir unsere Sicht auf die Werke weiter. Aber für mich ist diese Linie Bülow – Furtwängler – Karajan eine ganz starke, entscheidende Inspiration. Darauf basierend möchte ich das fortsetzen, was später Claudio Abbado und zuletzt Simon Rattle geschafft haben – die Repertoire-Erweiterung, die weitere Schärfung des klanglichen Profils, ja einer Unverwechselbarkeit des Orchesterklangs.«

Kirill Petrenko dirigiert Mahlers Sechste

Ein erstes Konzert mit den Berliner Philharmonikern hat Kirill Petrenko im Jahr 2006 dirigiert; auf dem Programm standen damals Bartóks Zweites Violinkonzert und Rachmaninows Zweite Symphonie. Über die außerordentliche Qualität des Orchesters hat er damals gesagt:

»Das Besondere an den Berliner Philharmonikern ist die Fähigkeit und der Mut jedes einzelnen Musikers, ob Solobläser oder Tuttistreicher, während des Musizierens eine so große Freiheit auszustrahlen. Eine Freiheit, die das ganze Gefüge immer im Blick behält, ein beherrschtes Risiko, bei dem die große Ordnung nicht ins Wanken gerät und die dennoch eine völlige Entfesselung im Moment der Aufführung ermöglicht.«

Im Juni 2015 wählten die Berliner Philharmoniker Kirill Petrenko zu ihrem neuen künstlerischen Leiter in der Nachfolge von Sir Simon Rattle. Im März 2017 gab es die ersten Konzerte mit ihm als zukünftigen Chefdirigenten, ein Jahr darauf ging man mit einem Programm schon auf eine kleinere Tournee. Mit der Saison 2019/20 hat Kirill Petrenko offiziell sein Amt angetreten und mittlerweile neben zahlreichen symphonischen Abenden auch das erste gemeinsame Silvesterkonzert und mit Puccinis Suor Angelica ein eindrückliches Nachwuchs- und Vermittlungsprojekt gestaltet. Dabei gilt für ihn weiterhin, was er anlässlich seiner Ernennung formuliert hat:

»Ich bin unsagbar froh, diesem Ensemble von nun an eng verbunden zu sein, und freue mich unendlich auf unser gemeinsames Musizieren.«

Malte Krasting

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