Von: Lino Knocke
ca. 3 Minuten

Seine Musik prägt das Konzertrepertoire bis heute: die schillernden Märchenwelten aus Schwanensee und Der Nussknacker, das leidenschaftliche Aufbäumen des Ersten Klavierkonzerts, die sehnsuchtsvollen Melodien seines Violinkonzerts. Peter Tschaikowsky hat mit unverkennbarer Handschrift die romantische Musik geprägt. Doch wer war der Mensch hinter der glanzvollen Fassade seiner Werke? Ein Blick auf die (vielleicht) weniger bekannten Seiten eines Künstlers, dessen Leben von Brüchen, innerer Zerrissenheit und finanziellen Abhängigkeiten gezeichnet war.

Das Porzellankind

Peter Tschaikowsky war ein Kind mit sensiblen Antennen für eine grobe Welt. Geboren 1840 im Ural, wächst er in einer Familie auf, die Wert auf Bildung und Disziplin legt, aber wenig Verständnis für die feinen Regungen der Seele hat. Schon als kleiner Junge reagiert er empfindsam auf sein Umfeld, besonders aber auf die Musik. Aus tiefer Ergriffenheit bricht er beim Hören bestimmter Harmonien in Tränen aus oder wirft sich nach dem Klavierspiel schluchzend auf sein Bett, aufgewühlt von dieser für ihn körperlich durchdringenden Erfahrung. Seine Umgebung betrachtet ihn dabei mit Sorge, manchmal auch mit Spott. Der zartbesaitete Junge, den seine französische Gouvernante zärtlich »Porzellankind« nennt, wird früh aus dem vertrauten Zuhause gerissen: Mit zehn Jahren kommt er auf eine Eliteschule in Sankt Petersburg, später tritt er – dem familiären und gesellschaftlichen Druck folgend – eine Karriere als Beamter im Justizministerium an. Mit 22 Jahren bricht er jedoch mit der bürgerlichen Karriere, die ihm bis dato ein gutes Einkommen gesichert hat. Gegen alle Vernunft kündigt er und beginnt ein Musikstudium am gerade gegründeten Konservatorium in Sankt Petersburg. Ein waghalsiges Risiko, doch für Tschaikowsky ein unverhandelbarer Akt innerer Notwendigkeit.

Im Korsett der Konventionen

Während er sich endlich seiner beruflichen Leidenschaft frei zuwenden kann, bleibt Tschaikowskys Privatleben im Käfig von Konventionen und Angst gefangen. In einer Zeit, in der Homosexualität nicht nur tabuisiert, sondern strafbar ist, lebt er seine Beziehungen nur im Verborgenen. 1877 trifft er eine folgenschwere Entscheidung: Um Gerüchten zuvorzukommen und die bürgerliche Fassade zu wahren, geht er eine Ehe mit der jungen Konservatoriumsschülerin Antonina Miliukova ein. Doch schon kurz nach der Hochzeit kommt es zum Bruch: Tschaikowsky erleidet einen psychischen Zusammenbruch. In einem Moment äußerster Not steigt er, wie spätere Zeitzeugen berichten, wortlos in den eiskalten Moskwa-Fluss – womöglich ein verzweifelter Versuch, sich das Leben zu nehmen, ohne einen offenen Skandal zu verursachen. Doch er überlebt – und flieht nach Moskau. Das Paar lebt fortan getrennt, die Ehe bleibt jedoch formell bestehen. Ein offizielles Scheidungsverfahren scheitert mehrfach am zaristischen Rechtssystem, das einen nachweisbaren Ehebruch verlangt – etwas, was Antonina nicht bereit ist, einzugestehen. Tschaikowsky stellt seine Bemühungen ein und bleibt bis zu seinem Tod offiziell ein verheirateter Mann.

Die Mäzenin aus der Ferne

In derselben Zeit tritt eine Frau in sein Leben, die seine künstlerische Existenz absichert: Nadeschda von Meck, eine wohlhabende Witwe eines Eisenbahnunternehmers und Musikliebhaberin, bietet ihm eine jährliche Apanage von 6000 Rubel an – eine großzügige Summe, die es ihm erlaubt, sich ganz der Musik zu widmen. Ihre einzige Bedingung: ein persönliches Kennenlernen schließt sie kategorisch aus. »Je mehr ich mich für Sie begeistere, desto mehr fürchte ich die Begegnung«, schreibt sie in einem Brief. »Ich ziehe es vor, an Sie aus der Ferne zu denken, Sie in Ihrer Musik zu hören und in ihr mit Ihnen zu empfinden.« Über 13 Jahre schreiben sich Tschaikowsky und von Meck fast täglich. Ein intensiver, intimer Briefwechsel, in dem sich die beiden nicht nur über Musik, sondern auch über Lebensfragen, Ängste und Hoffnungen austauschen. Die Beziehung bleibt platonisch und schriftlich – und wird zur verlässlichen Konstante in Tschaikowskys unsteten Leben. 1890 bricht von Meck den Kontakt jedoch überraschend ab. Die Gründe sind bis heute nicht eindeutig geklärt – womöglich spielten finanzielle Schwierigkeiten eine Rolle. Für Tschaikowsky ist der Verlust schmerzhaft, wenn auch nicht existenzbedrohend: Seine Werke sind inzwischen international gefragt, er hat sich längst einen Namen gemacht.

Glanz und Schatten einer Karriere

In den 1880er Jahren beginnt seine Karriere an Fahrt aufzunehmen. Die Ballette Schwanensee, Dornröschen und Der Nussknacker sowie die großen Symphonien und Klavierkonzerte sichern ihm wachsende Anerkennung – auch beim Publikum im Westen. 1891 reist er nach Amerika, wo er eingeladen wird, die neu eröffnete Carnegie Hall in New York zu dirigieren. Es ist der Höhepunkt seines internationalen Ruhms, ein symbolträchtiger Moment: Der einstige Justizbeamte aus dem russischen Hinterland eröffnet die modernste Konzerthalle der neuen Welt. Doch bei aller äußeren Strahlkraft bleibt Tschaikowsky ein innerlich Getriebener, stets begleitet von der Angst vor Enttarnung und Skandal, vor dem Verlust seiner mühsam erarbeiteten Integrität. Zwei Jahre später stirbt er – laut offizieller Diagnose an einer Cholera-Infektion. Die bis heute nicht gänzlich geklärten Umstände lassen jedoch Raum für Spekulationen über einen möglichen Freitod.