Berliner Philharmoniker
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Autor*in: Frank Harders-Wuthenow
ca. 4 Minuten

Roberto Gerhard zur Seite gedreht, am Klavier sitzend, rauchend.
Roberto Gerhard | Bild: Bridgeman Images

Roberto Gerhard gehört zu den großen Unbekannten in der Musik des 20. Jahrhunderts. Sir Simon Rattle stellt uns Mitte Mai diesen Komponisten vor, in dessen Schaffen auf faszinierende Weise Avantgarde und spanische Klänge verschmelzen.

Strawinsky wird der Ausspruch zugeschrieben, ein Komponist solle immer seinen Pass bei sich tragen – will heißen, er solle stets seine musikalische Herkunft nachweisen können. Im Fall von Roberto Gerhard gehen wir bei einem Blick in die Personaldokumente allerdings erst einmal gehörig in die Irre: er kommt als Robert Gerhard i Ottenwaelder am 25. September 1896 in Valls zur Welt, einem kleinen Ort in der katalanischen Provinz Tarragona.

Wie es katalanischer Brauch ist, trägt er neben dem Namen seines deutsch-schweizerischen Vaters – dem er einen Schweizer Pass verdankt – auch den Namen seiner elsässischen Mutter. Von spanischen oder gar katalanischen Wurzeln kann also keine Rede sein, dennoch macht ihn die Prägung durch Sprache und Kultur in der Kindheit zum Katalanen durch und durch. Katalanisch, Spanisch und Französisch sind die Sprachen, mit denen er aufwächst, Deutsch – die Sprache des Vaters – perfektioniert er erst später in Wien und Berlin, Englisch wird ihm in Cambridge zur Sprache des Exils.

Doch zunächst führt ihn der Weg nach München ans Konservatorium – nach Abbruch einer kaufmännischen Ausbildung, die der Vater (seines Zeichens Wein-Exporteur) verlangt hatte. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zwingt ihn nach nur wenigen Monaten nach Hause zurück. In Barcelona studiert er Klavier bei Enrique Granados und, nach dessen tragischem Tod 1916 bei der Torpedierung einer französischen Fähre durch ein deutsches U-Boot, bei dessen Nachfolger Frank Marshall. 1916 wird Gerhard Schüler auch von Felip Pedrell, dem Doyen der spanischen Musikethnologie, dem Lehrer von Granados, Albéniz und de Falla.

Gerhard reüssiert in einem Stil, der französisches Raffinement im Gefolge Ravels mit den musikalischen Idiomen seiner katalanischen Heimat zu amalgamieren sucht, aber er fühlt sich auf dem Holzweg. Er zieht sich zurück und betreibt Studien auf eigene Faust. Arnold Schönbergs 1911 erschienene Harmonielehre wird seine Bibel. Im Oktober 1923 schreibt er einen langen, Hilfe suchenden Brief nach Wien: Schönberg ist beeindruckt und bewegt, das Ethos des jungen Katalanen mag ihn an sein eigenes Suchen, sein eigenes Aufbegehren gegen akademische Doktrinen erinnert haben. Im Dezember 1923 wird Gerhard Schönbergs Meisterschüler. 1925 folgt er ihm nach Berlin, als Schönberg an der Akademie der Künste die Meisterklasse Busonis übernimmt.

Tradition und Avantgarde

Nach seiner Rückkehr 1929 nach Barcelona wird Gerhard zu einer treibenden Kraft des katalanischen Kulturlebens. Er gründet mit seinen Freunden, dem Maler Frank Harders-Wuthenow , Joan Miró und dem Architekten Josep Lluís Sert die sezessionistische Gruppe »Amics de l’Art nou« (Freunde der Neuen Kunst), der sich auch Salvador Dalí anschließt, und bringt die führenden katalanischen Tonschöpfer in der Vereinigung der »Unabhängigen Komponisten Kataloniens« zusammen.

Bei der Diskussion um die Frage, wieweit eine avantgardistische Kunst in folkloristischen Traditionen gründen dürfe, ruft Gerhard Béla Bartók als Kronzeugen auf: »Künstler sind frei, ihren Vorbildern mit jeder Art von Technik zu begegnen, wie fortschrittlich sie auch sein mag. Dieser wunderbare Vorgang der Transsubstantiation, durch den Bartóks Musik die folkloristische Kultur seines Landes absorbiert und in die musikalische Essenz moderner Kunstmusik verwandelt, ist meiner Ansicht nach die wichtigste Lektion, die katalanische Musiker von diesem ungarischen Meister lernen sollten.« Gerhard, der Schönberg-Schüler, der Bewunderer Strawinskys, liefert uns hier den wichtigsten Schlüssel zum Verständnis seines eigenen Schaffens, in dem das komplizierte Verhältnis von Tradition und Avantgarde zu immer neuen Balancen findet.

Nach Erlangung des Autonomiestatus 1932 wurde Gerhard in den neu geschaffenen Musikrat berufen und er steht als einer der wichtigsten Repräsentanten der Kultur des republikanischen Kataloniens auf der schwarzen Liste der Faschisten. Als Barcelona Ende Januar 1939 an Franco fällt, flieht er mit seiner Frau nach Paris, und von dort, dank eines durch Edward Dent vermittelten Arbeitsstipendiums, ins sichere englische Exil. Erst in Cambridge hispanisiert er seinen Vornamen zu Roberto – Spuren einer möglichen deutschen Abstammung gilt es spätestens seit dem Angriff Nazi-Deutschlands auf Großbritannien im Sommer 1940 zu kaschieren. Als »blessing in disguise«, einen Segen in Verkleidung, bezeichnete Gerhard seinen Status als Exilant: das existenzialistische Auf-sich-gestellt-sein kommt seinem Drang nach intellektueller Freiheit entgegen.

Vaterfigur Schönberg

In England findet Gerhard zu einem undogmatischen Serialismus, der Anwendung der Reihentechnik auf die zeitliche Organisation von Mikro- und Makrostruktur einer Komposition. Bezeichnenderweise geschieht die endgültige Hinwendung zur Vaterfigur Schönberg, die mit der Emanzipation von den musikalischen Prägungen seiner Kindheit und Jugend einhergeht, erst nach Schönbergs Tod. Gerhards Musik wird dissonanter, viriler, die Dominanz des Schlagwerks verbindet ihn mit Varèse, massive Klangballungen und ungewöhnliche Effekte, in denen sich die Erfahrungen mit elektronischer Klangmanipulation zeigen, mit dem polnischen Sonorismus. Hier spiegelt sich ein Lebensgefühl, das seine Entsprechung in der existenzialistischen Philosophie Sartres und Camus‘ hat. Mit The Plague nach Camus’ Roman La Peste gelingt Gerhard 1964, vier Jahre nach dem tragischen Tod des bewunderten Schriftstellers, eines der bedeutendsten oratorischen Werke der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Roberto Gerhard musikgeschichtlich zu positionieren ist ebenso schwer wie reizvoll, widersetzt er sich doch aufgrund seiner komplexen Biografie stereotypen Zuweisungen nationaler Eindeutigkeit. Trotz seiner herausragenden Rolle im katalanischen Musikleben in den 1930er-Jahren kam es in seiner Heimat erst lange nach dem Tod Francos zu einer Würdigung seines Schaffens. Katalanische Kollegen gingen sogar so weit, ihm seine katalanische Identität abzusprechen, nicht nur durch seine Abstammung begründet (Schweizer Pass!), sondern auch ästhetisch, weil seine Musik, wie Manuel Valls 1960 argumentierte, durch die Hinwendung zum Serialismus »wurzellos« geworden sei.

In England wiederum gilt er zwar als Pionier der Neuen Musik, der enormen Einfluss auf die Nachkriegsavantgarde hatte – der englische Komponist Anthony Payne beschrieb Gerhard gar als »something of a father figure for my generation« –, dennoch ist Gerhard auch auf der Insel ein selten gespielter Outsider geblieben. Über Gerhards Identität lässt seine Musik allerdings keinen Zweifel. Bis hin zu seinen scheinbar abstrakten Tonbandkompositionen gibt es kaum ein Werk, das nicht direkt oder indirekt geprägt ist von seinem katalanischen und spanischen Erbe. Und von der Wunde, die der spanische Bürgerkrieg in ihm hinterlassen hat. Werke wie seine einzige Oper The Duenna oder sein Ballett Don Quixote gehören, obwohl – oder vielleicht auch gerade weil – im englischen Exil geschrieben, zu den absoluten Höhepunkten der spanischen Musik im 20. Jahrhundert.