Von: Kerstin Schüssler-Bach
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Schwarz-Weiß-Porträt von Pierre Boulez mit kurzem, hellem Haar, der ein dunkles Hemd und eine Armbanduhr trägt, sein Kinn auf die Hände stützt und nachdenklich in die Kamera blickt. Der Hintergrund ist unscharf.
Pierre Boulez | Bild: Brice Toul / Archiv Berliner Philharmoniker

Pierre Boulez, dessen Geburtstag sich in 2025 zum 100. Mal jährt, war weit mehr als ein Komponist. Auch als Dirigent, Theoretiker und Kulturpolitiker prägte er die Musik des 20. Jahrhunderts grundlegend. Mit klarer Haltung, analytischem Geist und dem unermüdlichen Drang nach Erneuerung verkörperte er wie niemand sonst die musikalische Avantgarde. Wer nicht seiner Idee von Fortschrittlichkeit entsprach, musste mit gnadenloser Kritik rechnen.

Pierre Boulez als Sonnenkönig, sein Gesicht in das ikonische Gemälde Ludwigs XIV. hineinmontiert. Das Cover von Werner Klüppelholz’ neuem Boulez-Buch mit dem sprechenden Titel La musique, c’est moi! bringt es mit leichter Ironie auf den Punkt: Boulez war weit mehr als »nur« ein wichtiger Komponist. Der im Département Loire, westlich von Lyon, geborene Franzose prägte das Musikleben eines halben Jahrhunderts auch als eminenter Dirigent, Musiktheoretiker und Manager. Wen er verdammte, der hatte es schwer, ein Bein auf den Boden des Konzertlebens zu bekommen. In seiner Heimat bekam das etwa Henri Dutilleux zu spüren, dessen bekennende Traditionalität Boulez als persönlichen Affront betrachtete. Auch für seinen Lehrer Olivier Messiaen hatte er – obwohl er ihn durchaus verehrte – beißenden Spott übrig: »Bordellmusik« nannte er etwa dessen Trois Petites Liturgies.

In Deutschland fand Boulez seinen Lieblingsfeind in Hans Werner Henze. Das Gefecht nahm seinen Anfang bei den Donaueschinger Musiktagen 1957, als er bei der Uraufführung von Henzes Nachtstücke und Arien zusammen mit Luigi Nono und Karlheinz Stockhausen demonstrativ schon nach den ersten Takten den Saal verließ. Später tauschte man Sottisen aus: »Ich denke bei ihm immer an einen lackierten Friseur«, giftete Boulez über Henze in seinem berühmt gewordenen Interview im Spiegel von September 1967. Worauf der Geschmähte telegrafisch entgegnete: »Der calvinistische Einzelkämpfer, Geschmackspächter und petit bourgeois Boulez interessiert mich nicht. Seine Bierkutscherpolemik hilft nicht weiter«.

Das Feindbild Henze definierte sich für Boulez zum einen über dessen Festhalten am emphatisch Schönen, zum anderen am »Bedienen« des tradierten Formenkanons: Henze schrieb nicht nur Symphonien, sondern – schlimmer noch – Opern! Kaum ein Porträt über Boulez kommt ohne dessen aufs Schlagwort verkürzte Parole »Sprengt die Opernhäuser in die Luft!« aus. So betitelte Der Spiegel das erwähnte Interview. In ihm wandte sich Boulez bissig, aber glasklar analysierend nicht nur gegen den ästhetischen, sondern auch gesellschaftlichen Muff: »Das Pariser Opernhaus ist voller Staub und Scheiße – um gut Deutsch zu sprechen. Da gehen nur noch die Touristen hin, weil man die Oper von Paris gesehen haben muss«.

Gegen verstaubte Traditionen und Institutionen

Im vorrevolutionären Klima von 1967 hatte Boulez’ Furor seine Berechtigung – seitdem ist viel passiert, um nicht nur die Gattung Oper, sondern auch das Verhältnis zwischen Publikum und Musizierenden zu demokratisieren. Wenn sich ein Berliner Konzertsaal den Namen von Boulez gibt, so ist das nicht nur dem Repertoire geschuldet, das selbstverständlich Zeitgenössisches, Vorträge und Diskussionen mit einbezieht, sondern auch einer Saalarchitektur, die keine Hierarchien aufstellt.

Ein Jahr vor dem Spiegel-Interview hatte Boulez sein Dirigierdebüt bei den Bayreuther Festspielen gegeben. Wieland Wagner hatte ihn für Parsifal auf den »Grünen Hügel« gelockt. Noch folgenreicher sollte aber sein Dirigat des »Jahrhundertrings« von Patrice Chéreau werden: bei der Premiere 1976 noch mit Trillerpfeifen bekämpft, bei der letzten Vorstellung 1980 mit eineinhalb Stunden Ovation gefeiert. Hier wie auch sonst wandte sich Boulez gegen Schwulst und Pathos, sorgte für eine flüssige, transparente Darstellung der Partitur.

Die Berliner Philharmoniker versicherten sich des scharfsinnigen Dirigenten Pierre Boulez bereits im Jahr 1961. Intendant Wolfgang Stresemann hatte ihn für ein Programm eingeladen, bei dem neben Boulez’ eigenem Werk Pli selon pli – (Portrait de Mallarmé) auch Werke von Claude Debussy und Anton Webern erklangen. Zu dieser Zeit hatte Boulez, der sehr gut Deutsch sprach, nicht nur in den hiesigen Avantgardezentren Donaueschingen und Darmstadt den Ton angegeben, sondern auch seinen Wohnsitz nach Deutschland verlegt und eine Villa in Baden-Baden bezogen. Zu den Berliner Philharmonikern kehrte er nach längerer Pause 1993 zurück, um sich den Klassikern des 20. Jahrhunderts in exemplarischen Interpretationen zu widmen.

In der Zwischenzeit hatte Boulez nicht nur als Dirigent eine internationale Karriere verfolgt, sondern auch den Bau eines neuartigen Musikinstituts und Forschungszentrums in Paris betrieben, das wahrlich in die Zukunft wies: das 1977 gegenüber vom Centre Pompidou errichtete IRCAM (Institut de Recherche et de Coordination Acoustique/Musique), ein Labor für experimentelle Klänge, in dem sich Wissenschaft, Technologie und künstlerische Expertise bis heute die Hand reichen. Boulez’ Vision einer zeitgenössischen Musik, die auch in den Produktionsbedingungen Anschluss an die technischen Errungenschaften des späten 20. Jahrhunderts fand, war dank seiner exzellenten politischen Vernetzung Wirklichkeit geworden.

Wucherung als kompositorisches Prinzip

Der Komponist Boulez nahm die technischen Möglichkeiten natürlich ebenfalls in Anspruch. Durch die Systeme des IRCAM kam beispielsweise die auf Strawinsky bezogene Komposition ... explosante-fixe ... zu ihrer finalen Gestalt. Akustische Instrumente und elektronische Komponenten verweben sich dank eines damals bahnbrechenden Computersystems zu einem faszinierenden Kontinuum.

Schon als 20-Jähriger schuf Boulez mit den Notations ein Schlüsselwerk für das Klavier, für »sein« Instrument – obwohl er selbst an den pianistischen Aufnahmeprüfungen in Lyon und Paris seinerzeit gescheitert war. Incisif, einschneidend, heißt eine Vortragsanweisung in den Notations, ein Charakter, an den seine mitunter aggressive, zersplitterte Klangsprache auch später noch erinnert. In etlichen Kammermusikwerken teilte Boulez dem Klavier eine gewichtige Rolle zu, und mit den Structures für zwei Klaviere lieferte er ein weiteres Zentralwerk.

Das Vorbild der jungen, denkhungrigen Generation der Nachkriegsavantgarde war Anton Webern. »Ein Komponist, der die unausweichliche Zwangsläufigkeit Weberns nicht erkannt und verstanden hat, ist absolut unnütz«, formulierte Boulez 1961 kategorisch. Ausgehend von Weberns konzentriertem Vokabular, der Überwindung der tonalen Gravitationen, der Autonomie jedes Tons entwickelte sich die serielle Musik. Hier sind nicht nur die Tonhöhen in Reihen organisiert, sondern auch andere Parameter wie Dauer, Lautstärke oder Klangfarbe. Boulez, der ursprünglich Mathematik studieren wollte, konnte seinen Sinn für Proportionen und Zahlenspiele hier ausleben. Für seinen Stil wurde aber auch der Begriff der Wucherung prägend: »Für mich ist eine musikalische Idee wie ein Samenkorn: Man pflanzt es in eine bestimmte Erde und plötzlich vermehrt es sich wie Unkraut. Dann muss man jäten«, sagte Boulez einmal. Aus diesem Gestaltungsprinzip ergibt sich auch die gestische Prägnanz seiner Musik.

Als Denk- und Baumeister hatte Boulez auf die nachfolgenden Generationen einen bis heute nachwirkenden Einfluss. Etliche Komponistinnen und Komponisten, die er gefördert hat, nehmen heute einen wichtigen Platz im Musikleben ein. Stellvertretend sei noch einmal Ondřej Adámek zitiert: »Wenn ich zusammenfassen müsste, was Boulez für mich bedeutete, würde ich sagen: Respekt, Klarheit des Geistes, Effizienz, Ermutigung.«