Kammermusik bedeutet Dialog auf Augenhöhe und als Gruppe eine gemeinsame künstlerische Identität zu entwickeln. Kein Wunder, dass die Mitglieder der Berliner Philharmoniker sich leidenschaftlich gern dieser Kunst widmen. Die Bratschistin Julia Gartemann und der Cellist Knut Weber berichten von ihren Erfahrungen.
Die Sache ist paradox: Rund um den Dirigenten hat sich ein riesig besetztes Orchester versammelt, er könnte mit den Musikerinnen und Musikern jetzt eine Klangwucht entfalten, die den Saal zum Beben bringt. Und was wünscht sich der Maestro? Die Damen und Herren sollen bitte so spielen, als würden sie gerade Kammermusik machen. Ob Herbert von Karajan, Claudio Abbado, Sir Simon Rattle oder Kirill Petrenko – alle musikalischen Leiter der Berliner Philharmoniker haben und hatten dieses Ideal: dass die große Gruppe so zusammen musiziert, als handele es sich um eine ganz kleine Formation, bei der jede und jeder genau darauf hört, was die anderen gerade machen.
Die Mitglieder des Orchesters sollen sich nämlich nicht nur auf die Zeichengebung des Mannes mit dem Taktstock verlassen, sich nicht als Befehlsempfänger empfinden, die sich dem Willen des Pultpotentaten unterzuordnen haben. Nein, ganz im Gegenteil: Sie sollen vor allem untereinander kommunizieren. »Die Antennen in alle Richtungen ausfahren«, nennt das der philharmonische Cellist Knut Weber. »Ich erinnere mich an eine Aufführung mit Claudio Abbado 1998, als ich ganz frisch im Orchester war. Bei einem Gruppensolo habe ich zu ihm nach vorne geschaut, doch er hat mir signalisiert, ich solle auf meinen Stimmführer achten statt auf ihn.«
»Die Sensibilität für das Miteinander der Stimmen erwirbt man vor allem in der Kammermusik«, erklärt seine Kollegin Julia Gartemann, seit 25 Jahren Bratschistin im Orchester. »Denn in den kleinen Gruppen wird während der Proben unheimlich viel über Details diskutiert, zum Beispiel über Phrasierungen. Gibt es verschiedene Meinungen, probieren wir einfach die Versionen aus und entscheiden dann.«
»Bei Kammermusik muss man sich gut verzahnen können«, ergänzt Knut Weber. Wenn alle Orchestermitglieder diese Fähigkeit trainiert haben, kommt das automatisch dem Zusammenspiel in der vollen Besetzung zugute. Musikalische Strukturen treten klarer hervor, der Klang wird kultivierter, nuancenreicher, das komplexe symphonische Gewebe erscheint transparenter. »Eigentlich messe ich als Dirigent ja Zeiteinheiten und sorge für Effektivität«, hat es Simon Rattle 2003 formuliert. »Wenn wir aber vom Geist der Kammermusik beseelt sind, bin ich etwas anderes: Ich sorge dafür, dass die Musiker einander beim Spielen verstehen.«
»Kammermusik hat mein Leben begleitet, von Kindheit an«, berichtet Julia Gartemann. Zu Schulzeiten wurde im familiären Kreis musiziert, später, als sie in Philadelphia am Curtis Institute of Music studierte, hatte sie Unterricht beim Bratschisten des berühmten Guarneri String Quartet, Michael Tree. Auch bei Knut Weber gab es Hausmusikabende, obwohl die Eltern keine Instrumente spielten, »aber wir sind so viele Kinder, dass wir die Besetzung des Forellenquintetts zusammenbekommen haben«. Franz Schuberts Meisterwerk ist für Klavier, Violine, Bratsche, Cello und Kontrabass gesetzt!
Orchestermitglieder über die Bedeutung von Kammermusik
An der Kölner Hochschule war Weber besonders von den Kursen begeistert, die das Amadeus-Quartett und das Alban Berg Quartett anboten. »Es gab allerdings auch einen Geigen-Professor, der seinen Schülern verboten hat, Kammermusik zu machen, weil er sie unbedingt als Solisten herausbringen wollte«, erinnert sich Weber.
»Über 90 Prozent der Philharmoniker machen regelmäßig Kammermusik«, schätzt der Cellist. Er selbst ist, ebenso wie Julia Gartemann, Mitglied in fünf verschiedenen Formationen, wenngleich nicht alle Ensembles regelmäßig auftreten. Viele kommen nur projektweise zusammen, denn schließlich finden diese Aktivitäten stets in der Freizeit der Orchestermitglieder statt.
Einige Streichquartette aus den Reihen des Orchesters haben zu ihren Zeiten echten Kultstatus erreicht: Das 1945 von Johannes »Hans« Bastiaan ins Leben gerufene Quartett beispielsweise, das bis 1970 existierte. Hanns-Joachim Westphal gründete seine Formation 1958, das Herzfeld-Quartett debütierte 1975, das Brandis-Quartett 1976, 1985 folgte schließlich das Philharmonia Quartett, das von Daniel Stabrawa und Jan Diesselhorst geprägt wurde.
Wahrlich außergewöhnlich war das Philharmonische Duo Berlin, zu dem sich der Cellist Jörg Baumann und der Kontrabassist Klaus Stoll 1969 zusammenfanden. Das Publikum reagierte begeistert, mehr als 600 Auftritte absolvierten die beiden Streicher weltweit und sie brachten ein Dutzend Schallplatten heraus. Seit 2019 wandeln der Cellist David Riniker und der Kontrabassist Janusz Widzyk als Philharmonia Duo auf ihren Spuren.
Als nach einem Vierteljahrhundert des zähen Ringens um die Finanzierung im Oktober 1987 endlich der Kammermusiksaal der Philharmonie eröffnet werden konnte, bedeutete das einen enormen Motivationsschub für die Philharmoniker, sich verstärkt in kleinen Formationen zu präsentieren. Aber ist der Saal mit seinen 1123 Sitzplätzen nicht überdimensioniert für das Repertoire? Julia Gartemann und Knut Weber sind sich einig: nein, nicht, was die Akustik betrifft.
»Wenn man auf der Bühne sitzt, wirkt er nicht zu groß«, sagt der Cellist, und die Bratschistin fügt hinzu: »Ich spiele sehr gerne im Kammermusiksaal, weil er nach demselben Konzept funktioniert wie der große Saal. Rundherum vom Publikum umgeben zu sein, sind wir gewohnt. Ich fühle mich wohl damit, denn so kann eine sehr konzentrierte Atmosphäre entstehen.«
Aktuell listet die Website der Philharmoniker 32 Kammermusikformationen auf – von den global bewunderten 12 Cellisten über diverse Bläservereinigungen oder das innovative Scharoun Ensemble bis hin zu den stilistisch spezialisierten Berliner Barock Solisten und dem rein weiblich besetzten Venus Ensemble.
Bei der Abonnement-Serie Q »Berliner Philharmoniker Ensembles« ist Julia Gartemann in dieser Saison mit dem Brahms Ensemble Berlin dabei, Knut Weber tritt mit dem Varian Fry Quartett auf. Die Werke, die in diesen Konzerten erklingen, haben sie jeweils zusammen mit ihren Kammermusik-Kolleginnen und -Kollegen ausgewählt – passend zum Saisonmotto Kontrovers!
»Es macht Spaß, Programme unter einer bestimmten Aufgabenstellung zu entwickeln«, schwärmt Julia Gartemann. »Das ist ein schöner Anlass zur Fortbildung, denn man muss kreativ werden, kann nicht auf das übliche Repertoire zurückgreifen und stößt bei der Recherche oft auf echte Trouvaillen.«
Kammermusiksaal
Jubiläumskonzert: 30 Jahre Berliner Barock Solisten
Berliner Barock Solisten
Gottfried von der Goltz Violine und Leitung
Diyang Mei Viola
Dorothee Oberlinger Blockflöte
Albrecht Mayer Oboe
Reinhold Friedrich Trompete
Werke von
Georg Philipp Telemann und Johann Sebastian Bach
Georg Philipp Telemann
Ouvertüre c-Moll TWV 55:c4
Georg Philipp Telemann
Konzert für Trompete, Streicher und Basso continuo D-Dur TWV 51:D7
Reinhold Friedrich Trompete
Georg Philipp Telemann
Konzert für Oboe, Streicher und Basso continuo d-Moll TWV 51:d2 (Rekonstruktion von Wolfgang Hirschmann)
Albrecht Mayer Oboe
Johann Sebastian Bach
Brandenburgisches Konzert Nr. 3 G-Dur BWV 1048
Pause
Georg Philipp Telemann
Konzert für drei Violinen, Streicher und Basso continuo F-Dur TWV 53:F1
Georg Philipp Telemann
Konzert für Viola da braccio, Streicher und Basso continuo G-Dur TWV 51:G9
Diyang Mei Viola
Johann Sebastian Bach
Brandenburgisches Konzert Nr. 2 F-Dur BWV 1047
Kammermusiksaal
Berliner Philharmoniker Ensembles
Brahms Ensemble Berlin:
Rachel Schmidt Violine
Raimar Orlovsky Violine
Diyang Mei Viola
Julia Gartemann Viola
Uladzimir Sinkevich Violoncello
Werke von
Felix Mendelssohn Bartholdy, Anton Bruckner und Johannes Brahms
Felix Mendelssohn Bartholdy
Streichquintett Nr. 2 B-Dur op. 87
Pause
Anton Bruckner
Intermezzo d-Moll
Johannes Brahms
Streichquintett Nr. 2 G-Dur op. 111
Kammermusiksaal
Berliner Philharmoniker Ensembles
Pangaea Trio Berlin:
Marlene Ito Violine
Uladzimir Sinkevich Violoncello
Yannick Rafalimanana Klavier
Angelo de Leo Violine
Amihai Grosz Viola
Werke von
Dmitri Schostakowitsch, Maurice Ravel und Johannes Brahms
Dmitri Schostakowitsch
Klaviertrio Nr. 1 c-Moll op. 8
Maurice Ravel
Klaviertrio a-Moll
Pause
Johannes Brahms
Klavierquintett f-Moll op. 34
Angelo de Leo Violine, Amihai Grosz Viola
Kammermusiksaal
Berliner Philharmoniker Ensembles
Johanna Pichlmair Violine
Eva Rabchevska Violine
Tobias Reifland Viola
Kyoungmin Park Viola
Moritz Karl Huemer Violoncello
László Gál Horn
Werke von
Wolfgang Amadeus Mozart und Antonio Salieri
Wolfgang Amadeus Mozart
Adagio und Fuge c-Moll KV 546
Eva Rabchevska Violine
Antonio Salieri
Vier Scherzi strumentali di stile fugato für Streichquartett
Eva Rabchevska Violine
Wolfgang Amadeus Mozart
Hornquintett Es-Dur KV 407
Kyoungmin Park Viola, László Gál Horn
Antonio Salieri
Fuge für Streichquartett
Eva Rabchevska Violine
Wolfgang Amadeus Mozart
Streichquintett Nr. 3 C-Dur KV 515
Eva Rabchevska Violine, Kyoungmin Park Viola
Kammermusiksaal
Varian Fry Quartett:
Philipp Bohnen Violine
Christoph von der Nahmer Violine
Martin von der Nahmer Viola
Knut Weber Violoncello
Anna Prohaska Sopran
Werke von
Wolfgang Amadeus Mozart, Dmitri Schostakowitsch und Arnold Schönberg
Wolfgang Amadeus Mozart
Fünf vierstimmige Fugen aus Bachs Wohltemperiertem Klavier, Teil 2, KV 405
Dmitri Schostakowitsch
Streichquartett Nr. 8 c-Moll op. 110
Pause
Arnold Schönberg
Streichquartett Nr. 2 fis-Moll mit Sopran-Solo op. 10
Anna Prohaska Sopran
Artist in Residence
Kammermusiksaal
Mitglieder der Berliner Philharmoniker
Janine Jansen Violine
Sunwook Kim Klavier
Marlene Ito Violine
Thomas Timm Violine
Christophe Horák Violine
Amihai Grosz Viola
Naoko Shimizu Viola
Ludwig Quandt Violoncello
Bruno Delepelaire Violoncello
Stefan Dohr Horn
Werke von
Johannes Brahms und George Enescu
Johannes Brahms
Trio Es-Dur für Klavier, Violine und Horn op. 40
Sunwook Kim Klavier, Stefan Dohr Horn
Pause
George Enescu
Streichoktett C-Dur op. 7
Marlene Ito Violine, Thomas Timm Violine, Christophe Horák Violine, Amihai Grosz Viola, Naoko Shimizu Viola, Ludwig Quandt Violoncello, Bruno Delepelaire Violoncello