Von: Holger Schmitt-Hallenberg
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Bild: Heribert Schindler

Als Jean-Philippe Rameau 1733 seine erste Oper präsentierte, entbrannte ein Kulturstreit: War die Zukunft der Oper noch Jean-Baptiste Lully verpflichtet, der die französische Musiklandschaft über 60 Jahre dominiert hatte – oder begann mit Rameaus kühner Harmonik und orchestraler Raffinesse eine neue Ära?

Wenn wir heute von der Kontroverse der »Lullysten« gegen die »Ramisten« sprechen, muss vorweg gesagt sein, dass Jean-Philippe Rameau vier Jahre alt war, als sein »Widersacher« Jean-Baptiste Lully starb. Zwischen Lullys letzter Oper Armide (1686) und Rameaus Erstling Hippolyte et Aricie (1733) liegen 47 Jahre! Wie so oft handelt es sich auch bei dieser Auseinandersetzung um einen Streit der Anhänger, nicht der Protagonisten selbst. Die Diskussion um die französiche Oper, die 1733 zwischen den »Lullysten« und »Ramisten« anlässlich der Uraufführung von Rameaus erster Oper entbrannte, muss zudem im Licht einer größeren und älteren Debatte gesehen werden, die seit den 1630er-Jahren bis Ende des 17. Jahrhundert geführt wurde: der »Querelle des Anciens et des Modernes«.

In diesem Streit ging es nicht einfach um Konservatismus und Modernität, wie der Name vermuten lassen könnte, sondern um die Frage, ob die Antike weiterhin das Vorbild für eine aktuelle französische Literatur und Kunst sein könne. Auf der einen Seite standen mit den »Anciens« diejenigen Autoren und Dichter, die die Antike bewunderten und deren moralischer Humanismus auf Strenge und Ewigkeit eines Werkes abzielten. 

Klassik versus Katholizismus

Dementsprechend schufen große französische Dichter und Dramatiker wie La Fontaine, Corneille oder Racine zahlreiche Werke auf der Basis von mythologischen Themen, die oft zur Grundlage von Operntexten wurden. Auf der anderen Seite standen die Gelehrten von Klerus und der Académie française gemeinsam mit Dichtern, die für die Einhaltung der galanten Anstandsegeln der gehobenen Gesellschaft eintraten, sowie die Kritiker der Klassiker, die sich auf den aktuellen Geschmack des Pariser Publikums stützten. Im Untergrund liefen außerdem politische und religiöse Debatten, in denen es darum ging, welches Ideal adäquat für einen katholischen Herrscher sei. 

Auf der einen Seite stand das antike Modell mit heidnischen Göttern, die das Verwirrende, Zerrissene in der Darstellung des menschlichen Lebens zuließen. Oder sollte man sich doch eher christlichen Helden und französischen Epen zuwenden, die der französischen Gesellschaft bessere Vorbilder für ein »anständiges« Verhalten liefern würden? Die Geschichte entschied auf lange Sicht und gab den Anciens Recht – Pascal und Descartes gelten noch heute als prägend für die Philosophie, Molière für die Komödie, Corneille und Racine für die Tragödie. Auf die kurze Sicht aber hatten die »Modernes« die Oberhand. 

Über die Rolle der Musik wurden ähnliche Diskussionen geführt, auch wenn diese erst nach dem Tod des Sonnenkönigs 1715 offen ausbrachen. 1733 war die Pariser Musikwelt dann reif für die Revolution: Die Uraufführung von Rameaus Hippolyte et Aricie rief Reaktionen von Aufregung und Bewunderung bis hin zu Verblüffung und Abscheu hervor und entzündete die »Querelle des Lullystes et des Ramistes«. Hier standen jetzt auf der einen Seite die offizielle Musikkultur der Académie royale de musique, die der Ästhetik Jean-Baptiste Lullys treu ergeben war und den Stil Rameaus als zu »italienisch« betrachtete, und auf der anderen Seite Rameaus Anhänger, die den Reichtum und die Komplexität seiner Musik lobten.

»Rameau ist verrückt!«

Knapp 50 Jahre nach seinem Tod galt Lully, der zu seinen Lebzeiten als Surintendant de la musique de la chambre du roi, als Maître de musique de la famille royale, als Directeur de l’Académie royale de musique und enger Freund des Königs praktisch alle Aspekte des höfischen Musiklebens kontrolliert hatte, als konservative Kraft. Das von ihm etablierte Modell der Hofoper blieb über Jahrzehnte so dominierend, dass neue Entwicklungen selbst nach seinem Tod 1687 bis zum Ende der Herrschaft Ludwigs XIV. 1715 und darüber hinaus fast unmöglich waren. 

Der einzige, dem es gelang, Lully künstlerisch Paroli zu bieten, war Marc-Antoine Charpentier, dessen Médée (1690) wohl die bedeutendste Oper des »Interregnums« zwischen Lully und Rameau ist. Charpentier konzentrierte sich ansonsten weitgehend auf die von Lully weniger gepflegte Kirchenmusik. Er wurde durch einen langen Studienaufenthalt in Rom tief vom italienischen Stil geprägt, dessen Elemente in seiner Musik deutlich hörbar werden – kritisch beäugt von den Traditionalisten.

Erst Rameau gelang es, die französische Oper aus dem eisernen Griff der Lullyʼschen Konvention zu führen. Auch er war vom melodischen Stil der Italiener fasziniert, noch wichtiger war ihm die Aufwertung des Orchesters und eine oft kühne Harmonik, selbst wenn diese oft auf das Unverständnis seiner Zeitgenossen stieß. »Rameau ist verrückt!«, rief zum Beispiel Voltaire aus. 

Oder Abbé de Mably brachte seine Meinung mit folgenden Worten zum Ausdruck: »Ich hasse diese neuen Opern, es ist ein schrecklicher Lärm. Alle Stimmen werden vom Orchester übertönt; und wie kann es sein, dass ich mich bei einer Oper nicht langweile, von der ich kein einziges Wort verstehen kann.« Doch Rameau hielt an seinen Ideen fest, untermauerte sie theoretisch und veröffentlichte 1722 die bahnbrechende Schrift Traité de lʼharmonie réduite à ses principes naturels. Außerdem integrierte er ausgedehnte Orchesterrezitative und große Chorsätze in seine Opern, was von den Lullysten abgelehnt wurde. 

Das Ballett in der Oper – fast eine getanzte Arie

Auch die Rolle des Tanzes in der Oper bewertete er neu: Während die Balletteinlagen bei Lully im Zeichen des stilisierten höfischen Balletts standen, erweiterte Rameau dessen expressive Möglichkeiten. Bis heute ist die zentrale Rolle des Tanzes in der französischen Oper umstritten, oft wird das Ballett als rein dekoratives Beiwerk abgetan. Der Tanz hatte jedoch immer eine dramatische Funktion in der französischen Oper. Selbst wenn er nicht direkt die Handlung vorantreibt, fungiert er als Kommentar und reflektiert das Bühnengeschehen – fast wie eine getanzte Arie. Dies gilt besonders für das Musiktheater Rameaus und ist ein weiteres Element, das von den Lullysten verurteilt wurde.

Rameau selbst erklärte, er bewundere Lully und versuche stets, ihn nachzuahmen –nicht als unterwürfiger Kopist, sondern im Bestreben, wie er die Natur zum Vorbild zu nehmen. Doch Lullys Anhänger warfen ihm vor, genau dies nicht zu tun: Seine Musik sei schwierig, gekünstelt, grotesk, unnatürlich und »barock«. Der Philosoph Denis Diderot fasste die Unterschiede zwischen den beiden Zentralgestirnen des französischen Barocks prägnant zusammen: »Der alte Lully ist schlicht, natürlich, konstant – oft viel zu konstant, und das ist ein Makel. Der junge Rameau ist einzigartig, brillant, komplex, gelehrt – oft zu gelehrt, aber das ist ein Makel des Publikums.«

Bald war er ebenso umstritten wie Lully

Rameau traf einen tieferen Nerv: Seine Gegner fürchteten, dass er mit einem Schlag all das zunichtemachte, was Lully über Jahrzehnte aufgebaut hatte. Rameau brachte die scheinbar sichere Überzeugung ins Wanken, dass mit Lullys und seines kongenialen Librettisten Philippe Quinaults Meisterwerken das einheimische Musiktheater seine definitive und optimale Gestalt gefunden hatte. Daher ist es nicht verwunderlich, dass vor allem Rameaus frühe Werke wie Hippolyte et Aricie, Castor et Pollux und Les Indes galantes bei ihren Uraufführungen regelrechte Theaterskandale hervorriefen.

Je mehr die Ideale der Aufklärung unter Frankreichs Intellektuellen Fuß fassten, desto mehr konnten sich Rameaus Werke durchsetzen. Ironischerweise wurde Rameau auf der Pariser Bühne schließlich fast genauso dominierend, wie Lully es einige Jahrzehnte zuvor gewesen war. Und bald war er ebenso umstritten wie Lully, nämlich als die leichte, elegante und volkstümliche opéra comique in Mode kam und Rameaus Ansichten plötzlich als veraltet galten. Doch diese Debatte, die als Buffonistenstreit in den frühen 1750er-Jahren die Gemüter erhitzen sollte, muss ein anderes Mal erzählt werden.