Der Furchtlose

Klaus Mäkelä debütiert bei den Berliner Philharmonikern

Klaus Mäkelä
(Foto: Marco Borggreve)

Klaus Mäkelä ist erst 27 Jahre alt und gehört bereits zu den begehrtesten Dirigenten unserer Zeit. Er ist seit 2021 Musikdirektor des Orchestre de Paris, mit Beginn der Spielzeit 2027/2028 wird Mäkelä die Leitung des Concertgebouworkest übernehmen. Im April 2023 gab der Finne sein Debüt bei den Berliner Philharmonikern. Ein Porträt.

Gerade hat sich Micaëla in die Kulissen geflüchtet, nach dem unangenehmen Gespräch mit dem übergriffig flirtenden Moralès, jetzt lümmeln die Soldaten wieder gelangweilt vor ihrer Wache und lästern über das »seltsame Volk«, das sich auf der Plaza herumtreibt. Da –endlich! – kündigen zwei Querflöten und eine Trompete die Ablösung an, zusammen mit Don José und seiner Kompanie versammeln sich die Gassenjungen, um das zackige Gebaren der Uniformierten zu imitieren. »Avec la garde montante, nous arrivons, nous voilà!«, schmettern die Kinderstimmen, in antrainiertem Französisch, weil diese Carmen-Aufführung in Helsinki stattfindet.

Zur quirligen Truppe der singenden Jungs gehört auch der siebenjährige Klaus Mäkelä. Er fühlt sich wie verzaubert, im Kostüm, geschminkt und von unzähligen Scheinwerfern angestrahlt. Ein Wirbel aus Klang, Bewegung und Licht umfängt ihn, er spürt die Magie des Gesamtkunstwerks Oper. Und während er mit den anderen über die Szene marschiert, wie in Trance, fragt er sich, wer in dieser Wunderwelt wohl das Oberkommando innehat? Bald hat er den Chef ausgemacht, direkt vor ihm, im Orchestergraben. »Ich war komplett überwältigt von der Kraft der Musik«, erzählt der inzwischen 27-Jährige beim Interview im Amsterdamer Concertgebouw. »Das wollte ich auch können! Fünf Jahre lang träumte ich davon, Dirigent zu werden – bis ich endlich zur Aufnahmeprüfung für die Klasse von Jorma Panula zugelassen wurde.«

In einem Alter, in dem andere Kinder darauf brennen, nach der Schule möglichst schnell auf den Bolzplatz flitzen zu können oder an der heimischen Playstation zu zocken, begann sich Klaus Mäkelä systematisch auf einen der herausforderndsten Künstlerberufe vorzubereiten, auf einen Job, der nicht nur höchste musikalische Kompetenz erfordert, sondern ebenso sehr auch die Qualitäten eines Topmanagers und das Gespür eines Psychologen.

»Die Leute könnten sagen, mit 12 Jahren sei das musikalische Gehirn noch unterentwickelt«, räumt Mäkelä ein. »Aber wenn du in jungen Jahren anfängst, wird Dirigieren etwas ganz Natürliches, Selbstverständliches für dich.« Vor allem, wenn man Jorma Panula als Lehrmeister hatte. Der 1930 geborene Finne ist eine Legende als Maestro-Macher, er hat ganze Generationen von Kapellmeistern geprägt – und er interessierte sich mit zunehmendem Alter immer mehr für die ganz jungen Hochbegabten.

»Jede Woche standen wir vor einem kleinen Orchester«, berichtet Klaus Mäkelä. Normalerweise üben angehende Kapellmeister erst jahrelang auf dem Halbtrockenen, indem sie zwei Pianisten dirigieren, die vierhändige Klavierauszüge von symphonischen Partituren spielen. Dank seines Renommees aber konnte Jorma Panula seinen Schützlingen an der Sibelius Akademie in Helsinki bereits reale Ausbildungsbedingungen bieten.

Durch die kontinuierliche Arbeit mit dem Orchester hätten er und seine Kommilitonen ganz schnell gelernt, »dass du immer derselbe Mensch sein musst, dieselbe Persönlichkeit, egal ob du gerade auf der Bühne stehst oder nicht«, fährt Mäkelä in seinem Bericht fort. »Wenn du versuchst, mit dem Taktstock jemand anderes zu sein, wenn du in eine Rolle schlüpfst, funktioniert das nicht. Autorität lässt sich nicht durch Äußerliches herstellen. Du wirst dann niemals komplett überzeugend sein.«

Der finnische Shootingstar ist dankbar, dass er von Kindesbeinen an in den Beruf hineinwachsen durfte. »Ich konnte es einfach machen, ohne groß darüber nachzudenken. Würde ich erst in meinem jetzigen Alter mit dem Dirigieren anfangen, würde ich mir tausend Fragen stellen: Wie soll ich kommunizieren? Was denkt das Orchester, wenn ich dies oder jenes tue?«

Klaus Mäkelä hatte Glück. Denn sein Talent wurde früh erkannt und gefördert. Beide Eltern sind Profimusiker, der Vater Cellist, die Mutter Pianistin. »Wenn ich Hilfe benötigte, konnte ich sie immer fragen. So konnte ich mich selbst entwickeln, ohne Druck.« Und zwar gleich auf mehreren Ebenen, im Kinderchor der Oper, wo er seinen Traumberuf entdeckte, aber auch als Instrumentalist. Klaus wählte das Cello, er lernte schnell und war mit 15 Jahren schon so professionell, dass er als Aushilfe beim Helsinki Philharmonic engagiert wurde.

Klaus Mäkelä
(Foto: Marco Borggreve, Oslo Philharmonic)

»Das war meine zweite Dirigentenausbildung«, sagt Mäkelä, »aus der Musikerperspektive habe ich sehr viel gelernt.« Wobei die Begegnungen mit den schlechten Dirigenten ebenso aufschlussreich waren wie die mit den guten: »Die guten schaffen es, dass alle im positiven Sinne aufgeregt sind beim Musizieren. In der nächsten Woche kommt dann jemand anderes, und dieselben Leute sind unmotiviert, schauen auf die Uhr während der Probe.«

Kaum ist Klaus Mäkelä volljährig, gibt ihm das Helsinki Philharmonic auch die erste Chance, als Dirigent vor Publikum aufzutreten. Danach geht alles ganz schnell. Im Mai 2018 kann er beim Oslo Philharmonic Orchestra debütieren, bereits im Oktober bieten die Musikerinnen und Musiker aus der norwegischen Hauptstadt ihm die Chefposition an. Der zunächst auf vier Jahre angelegte Vertrag wird schon vor Beginn der Amtszeit 2020 auf sieben Jahre verlängert.

Denn mittlerweile ist auch das Orchestre de Paris an den Finnen herangetreten, will ihn ab 2022 verpflichten – und zieht dann den Start auf 2021 vor. Als nächstes holt die Decca Klaus Mäkelä an Bord – als Exklusivkünstler des Labels, was bei einem Dirigenten zuletzt 1978 der Fall war. Als erste Veröffentlichung erscheint dann gleich eine Box mit sämtlichen Sibelius-Symphonien, eingespielt mit dem Oslo Philharmonic.

Im vergangenen August macht der fantastische Finne dann das Trio seiner Leitungspositionen komplett, mit dem offiziellen Einstand als Chefdirigent beim Amsterdamer Concertgebouworkest. Fast ein Jahr hatten sich die Verhandlungen zuvor hingezogen, bis ein Weg gefunden war, um die gewünschte Verbindung so zu knüpfen, dass sie für beide Seiten passte. Weil Klaus Mäkelä alle seine Positionen gewissenhaft ausfüllen will, wird er beim Concertgebouw zunächst nur wenige Programme pro Spielzeit dirigieren, bevor er dann ab 2027 voll einsteigt.

Während sich die Musikwelt noch verblüfft die Augen reibt über diesen Wunderknaben, scheint er selbst am wenigsten erstaunt darüber, bereits an der Weltspitze angekommen zu sein. Listig verweist er darauf, dass einer seiner Vorgänger im Concertgebouw bei Amtsantritt sogar erst 24 Jahre alt gewesen sei, nämlich Willem Mengelberg. Das stimmt zwar, doch 1895 war das Orchester noch ein No-Name, das gerade seinen Gründungschef verloren hatte, nach Schottland, wo mehr Geld zu verdienen war. Erst nach der sagenhaften 50 Jahre währenden Ära Mengelberg wurden die Niederländer zu Global Playern.

Heutzutage trennen sich Orchester und Dirigenten viel zu schnell, findet Mäkelä. »Wer wirklich Veränderungen bewirken will, muss länger bleiben. Die Berliner Philharmoniker sind da ein gutes Beispiel. Herbert von Karajan hätte diesen ganz spezifischen Klang nicht innerhalb von zehn Jahren kreieren können.« Lange Amtszeiten stellen in seinen Augen eine Win-win-Situation dar. »Man lernt die Leute besser kennen, muss weniger sprechen in den Proben, versteht sich schneller. Das spart eine Menge Zeit und gibt uns die Möglichkeit, wirklich Musik zu machen.« Darum habe er sich entschieden, mit drei Orchestern sehr intensiv zu arbeiten, statt um die Welt zu jetten und Woche für Woche vor neuen Musikern zu stehen.

Wie lang aber ist zu lang in einer musikalischen Lebensabschnittspartnerschaft? »Nach 20 Jahren sollte man die Beziehung zum Orchester auf jeden Fall evaluieren«, sagt Mäkelä. »Um sich die Frage zu stellen: Wieviel kann ich dem Orchester noch geben?« Denn Dirigenten seien nun einmal gleichzeitig Traditionspfleger und Entwickler. »Wir tragen Verantwortung für unsere Orchester, müssen sicherstellen, dass sie glücklich sind, dass sie vorankommen. Wenn ich ihnen aber nichts mehr beibringen kann, dann ist es Zeit zu gehen.« Genauso wie Eltern ihre Kinder ziehen lassen müssten, wenn sie erwachsen geworden sind.

In Deutschland hat Klaus Mäkelä bisher vor allem mit Rundfunkorchestern zusammengearbeitet. »Eines der ersten Engagements war in Frankfurt. Wir verstanden uns sofort, ein tolles Orchester, sehr ernsthaft, großartige Holzbläser«, erinnert er sich. Dann kamen die NDR Radiophilharmonie Hannover, später auch das NDR Elbphilharmonie Orchester in Hamburg. »Besonders gut hat es mir auch in Bamberg gefallen, denn man spürte die enge Verbundenheit der Leute mit ihrem Orchester«, schwärmt er. Für 2020 war ein Auftritt mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin geplant – das dann aber der Pandemie zum Opfer fiel.

Sein Berlin-Debüt gab Klaus Mäkelä darum erst im vergangenen Herbst, bei einem Musikfest-Gastspiel mit seinen Amsterdamern. Im April steht nun seine Premiere bei den Berliner Philharmonikern an, aber der Finne zeigt im Interview keinerlei Lampenfieber. Er ist ein charmanter, eloquenter Gesprächspartner, kommt – in geschmeidigem Englisch – schnell auf den Punkt, erklärt bildhaft, singt auch mal musikalische Passagen vor. Und spricht als Fan historischer Aufnahmen von Karajans Sibelius-Einspielungen, die für ihn zu den besten Interpretationen der Werke gehören.

Für seinen Einstand bei den Berliner Philharmonikern hat Mäkelä keine Symphonie seines Landsmannes vorgeschlagen, sondern eine russische Kombination. »Es wird ein Abend in h-Moll«, sagt er. Mit zwei sechsten Symphonien, von Schostakowitsch und von Tschaikowsky. »Schostakowitsch ist ideal für die erste Hälfte, durch die Farbigkeit des Werkes. Der langsame Eröffnungssatz der Symphonie ist einer der ganz großen Würfe des Komponisten. Dann folgen zwei lustige Sätze, ein Scherzo und ein Rondo. Es ist ein Torso, aber ein wundervoller.«

Die Musik von Dmitri Schostakowitsch war Klaus Mäkelä schon immer nah. »Zu meinen ersten Erinnerungen aus Kindertagen gehört, wie meine Eltern die Cellosonate von Schostakowitsch proben«, erzählt er. »Gleich am Anfang meiner Dirigentenkarriere habe ich sehr viel Schostakowitsch gemacht. Bis ich dann eine Pause brauchte, weil es eine Musik ist, die vom Interpreten eine große Intensität verlangt. Jetzt bin ich wieder zu dem Komponisten zurückgekehrt, und ich versuche, ihn etwas menschlicher zu sehen, ohne die Intensität darüber zu vernachlässigen.«

Mit Tschaikowskys Pathétique steht in der zweiten Konzerthälfte eine Symphonie auf dem Programm, die in Berlin eigentlich Chefsache ist. Kirill Petrenko hat sie im ersten Konzert nach seiner Wahl dirigiert – eine unvergessliche Aufführung, die zu einem magischen »Ja, ich will«-Moment zwischen ihm und dem Orchester wurde. Klaus Mäkelä kennt den Mitschnitt aus der Digital Concert Hall vom März 2017 – und erinnert sich daran, dass ihm auch Petrenkos Zugriff auf Mozarts Haffner-Symphonie im ersten Teil des Konzerts sehr gut gefallen hat.

Mäkelä wäre allerdings nicht Mäkelä, wenn er sich von der Vorgeschichte für sein Philharmoniker-Debüt Bangemachen lassen würde. Dem Vergleich seiner Interpretation mit jener Petrenko-Sternstunde – der in der Presse unweigerlich angestellt werden wird – sieht er gelassen entgegen. Ja, er schüttelt bei der Frage nach dem Konkurrenzaspekt sogar den Kopf, fast ungläubig, wie sein Gegenüber darauf kommen konnte. Und betont dann lieber den aufführungspraktischen Aspekt der Werkauswahl: »Es ist ein Repertoirestück, darum können wir zusammen direkt in die Detailarbeit einsteigen. Wir brauchen nicht erst eine Anwärmphase. Es ist eine tolle Partitur, und es macht Spaß, sie mit einem Orchester zu spielen, das dieses Werk sehr gut kennt. Ich freue mich jedenfalls sehr darauf.«

Frederik Hanssen

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