Klavier als Heimat

Der Pianist Kirill Gerstein

(Foto: Marco Borggreve)

Als »sensationell« bezeichnete der Kritiker des rbbkultur dieses Debüt: Im April 2016 trat Kirill Gerstein zum ersten Mal als Solist in den Orchesterkonzerten der Berliner Philharmoniker auf und begeisterte mit seiner Interpretation von Sergej Rachmaninows Zweitem Klavierkonzert, einem Werk, das zu den anspruchsvollsten Stücken der Literatur gehört. »Wie schwer der Klavierpart technisch ist, hat man überhaupt nicht mitbekommen«, heißt es in der Rezension. »Wenn das Orchester eine Melodie zu spielen hatte und der Pianist sie kurz darauf übernahm, klang es sofort etliche Kilos leichter.« Sein transparentes, schwereloses Spiel selbst in den wuchtigsten Passagen gilt als Gersteins Markenzeichen. Alles wirkt bei ihm entspannt und selbstverständlich, gleichzeitig erscheint jede Note perfekt platziert, jeder Takt vollkommen durchdacht. Kein Wunder, dass der heute 40-Jährige Weltkarriere gemacht hat.

Die begann im Jahr 2000 mit seinem Konzertdebüt beim Züricher Tonhalle-Orchester; 2001 gewann Kirill Gerstein den Internationalen Arthur-Rubinstein-Wettbewerb in Tel-Aviv, im Jahr darauf wurde er mit dem Gilmore Young Artist Award ausgezeichnet und nutzte das Preisgeld von 300.000 Dollar, um Kompositionsaufträge u. a. an Chick Corea, Oliver Knussen und Brad Mehldau zu vergeben. Es folgten umjubelte Debüts u. a. bei der Staatskapelle Dresden, den Münchner und den Wiener Philharmonikern, dem Los Angeles und den New York Philharmonic, außerdem bei den Salzburger Festspielen und dem Lucerne Festival. Der in Berlin lebende Pianist konzertiert auf der ganzen Welt. Auf seinen vielen Reisen – so Gerstein in einem Interview – vermittele ihm sein Klavier und seine Musik ein Gefühl von Heimat.

Jazz oder Klassik?

1979 in Woronesch als Sohn eines Mathematiklehrers und einer Musiklehrerin geboren, wuchs Gerstein, der bereits im Alter von zwei Jahren mit dem Klavierspiel begann, in zwei musikalischen Welten auf: der Klassik und dem Jazz. Anfänglich schien es, als ob der Jazz ihn mehr faszinierte. 14-jährig kam er als jüngster Stipendiat nach Boston ans Berklee College of Music, um sich als Jazzpianist ausbilden zu lassen. Zwei Jahre später entschied er sich jedoch für die klassische Musik, studierte zunächst bei Solomon Mikowsky an der Manhattan School of Music, später bei Dmitri Bashkirov an der Escuela Superior de Música Reina Sofía. Wie der Musiker, der seit 2018 eine Professur an der Berliner »Hanns Eisler«-Hochschule innehat, in einem Interview für die Digitial Concert Hall verriet, war und ist die Auseinandersetzung mit dem Jazz ein wichtiger Baustein seiner künstlerischen Entwicklung: »Im Jazz habe ich gelernt, dass Musik mehr ist als die schwarzen Punkte auf dem Papier. Meine Erfahrung mit dem Improvisieren und dem Timing im Jazz beeinflussen in gewisser Weise die Art, wie ich Klassik spiele.«

Leidenschaftlicher Kammermusiker

Und noch etwas prägt seinen Stil: Kirill Gerstein denkt durch und durch kammermusikalisch. Egal, ob er als Solist mit einem Orchester auftritt, Teil eines Ensembles ist oder einen eigenen Soloabend gibt. Als Kammermusiker konnte man den Pianisten bereits mehrfach in philharmonischen Konzerten erleben, beispielsweise im Trio mit dem Geiger Kolja Blacher und dem Cellisten Clemens Hagen oder gemeinsam mit Mitgliedern der Berliner Philharmoniker. Nun gibt er in der Reihe Klavier einen Soloabend und macht – wie er es ausdrückt – »Kammermusik mit sich selbst«. Er unternimmt eine musikalische Reise durch Zentraleuropa und präsentiert dabei Werke von der Wiener Klassik bis zur zeitgenössischen Musik. Hauptreiseziele dieses Abends sind Österreich und Ungarn – mit der Wanderer-Fantasie von Franz Schubert und der h-Moll-Sonate von Franz Liszt.