Symphonischer Leuchtturm

Beethovens Neunte und die Berliner Philharmoniker: ein Rückblick

1968: Foto zu Filmaufnahmen von Beethovens Neunter Symphonie
(Foto: Lauterwasser/Achiv Berliner Philharmoniker)

Kirill Petrenko hat für seinen Amtsantritt als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker eines der Schlüsselwerke der westlichen Musikkultur auf das Programm gesetzt: Ludwig van Beethovens Neunte Symphonie, die mit ihrer Anlage, ihrer Länge und ihrem ungewöhnlichen Chorfinale die Grenzen des zu Beethovens Zeiten Üblichen sprengte sowie Form, Zweck und Konzeption des Genres der Symphonie neu definierte. Darüber hinaus transportiert das Werk mit der im Schlusssatz vertonten Ode von Friedrich Schiller eine humanistische Botschaft, einen Appell für Frieden und Brüderlichkeit von zeitloser Gültigkeit.

Tadellos und inspiriert

In der Geschichte der Berliner Philharmoniker spielen Aufführungen der Neunten eine entscheidende Rolle. Interessant und spannend zu beobachten ist dabei, wie sich der programmatische Kontext im Laufe der Zeit ändert. Erstmals führten die Berliner Philharmoniker die Neunte im Oktober 1883, ein gutes Jahr nach ihrer Gründung, unter der Leitung von Franz Wüllner auf. Mit großem Erfolg für den noch jungen Klangkörper. In der Zeitschrift Signale für die musikalische Welt hieß es, es sei die beste Aufführung des Werks, die jemals in Berlin geboten wurde: »Das Orchester bot unter Wüllners Leitung eine technisch tadellose, ungemein inspirierte Leistung.« Vor der Symphonie erklangen Choräle von Bach und die Verwandlungsmusik und Schlussszene aus dem ersten Akt von Wagners Parsifal. Die Kombination mit Musik Richard Wagners, für den die Neunte eine entscheidende Inspirationsquelle für das eigene Musikschaffen war, findet man in den Anfangsjahren des Orchesters häufiger, ebenso wie Programme, in denen die Symphonie mit weiteren Werken Beethovens kombiniert wurde.

Doppelter Genuss?

Hans von Bülow, erster Chefdirigent der Berliner Philharmoniker und Beethoven-Enthusiast, realisierte im März 1889 eine Doppelaufführung der Neunten. Ein absolutes Novum für das Berliner Publikum, das in der Presse durchaus kontrovers bewertet wurde. Man belächelte es als »Schrulle« und »Marotte«. Der Kritiker der Neue Zeitschrift für Musik, der von der ersten Aufführung vollkommen begeistert war, gestand, als »die düsteren Quinten a-e auf Neue erklangen, als es galt, noch einmal den Tartarus zu durchwandeln, nachdem man bereits in die sonnenhellen Regionen des Finale geschaut, da fühlte ich bald, dass ich meine Kräfte überschätzt hatte.« Bülow verfolgte mit der Doppelaufführung, die in Berlin für ihn zum Triumph geriet, zwei Ziele: Erstens hatte er – weil keine weiteren Stücke gespielt wurden – mehr Zeit, das Werk zu proben, zweitens konnte er dem Publikum dadurch die Symphonie besser näherbringen.

Auch Arthur Nikisch, der Nachfolger Bülows, mutete dem Publikum einiges zu, indem er in einem Konzert Schumanns Musik zu Manfred und die Neunte aufs Programm setzte. Unter diesem »Zuviel des Guten« – so die Meinung der Zeitschrift Signale – hatten Aufführende wie Zuhörer zu leiden. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es bei den Berliner Philharmonikern künstlerische Fixpunkte, bei denen Beethovens Neunte regelmäßig erklang: beim jährlichen Beethoven-Zyklus, bei Benefizkonzerten für den Pensionsfond und den Silvester- und Neujahrskonzerten in der Volksbühne. In manchen Jahren gab es bis zu vier Aufführungen des Werks. Ein Kuriosum am Rande: Ein Berliner Fabrikbesitzer hatte dem Orchester in seinem Testament 40.000 Mark vermacht, damit es jährlich ein Gedenkkonzert für ihn veranstaltet, in dem u. a. auch Beethovens Neunte erklingen sollte. Die Philharmoniker erfüllten jahrelang den Wunsch, allerdings spielten sie nur die ersten drei Sätze der Symphonie, ohne das aufwändige Chorfinale.

Ein neuer Ton

Eine weitere Konstante bildeten die regelmäßigen Aufführungen der Neunten mit dem Bruno Kittelschen Chor, einer der führenden Chorvereinigungen Berlins. Dieser wirkte auch bei der ersten Neunten mit, die Wilhelm Furtwängler bei den Berliner Philharmonikern dirigierte. Das war im März 1922, kurz nach dem plötzlichen Tod von Arthur Nikisch, und Furtwängler setzte alles daran, dessen Nachfolger zu werden. Seine Interpretation des Werks ließ aufhorchen: Sie sei »persönlich gestaltet und von einer durchaus eindringlichen Überzeugungskraft«, hieß es in der Presse. Wahrscheinlich hat das gefeierte Konzert mit dazu beigetragen, dass Furtwängler das Amt des Chefdirigenten bekam. Dieser Neunten sollten noch viele weitere folgen, Furtwängler setzte mit ihrer Aufführung immer wieder Maßstäbe und durchlief mit ihr einen spannenden künstlerischen Entwicklungsprozess. 1935, der Kittelsche Chor und die Philharmoniker feierten die gemeinsame 100. Aufführung des Werks, schrieb der Kritiker des Berliner Tagblatts: »Auch wer Furtwänglers Neunte genau kennt, erlebte eine Überraschung. Nicht mehr, wie vor wenigen Jahren, wurde die dynamische Gegensätzlichkeit bis an die äußersten Grenzen getrieben, nicht mehr wurden die Schauer eines kaum mehr hörbaren Pianissimo ausgekostet […]. Eine neue Strenge lag über der Aufführung, Furtwängler nähert sich immer mehr einem klassischen Ideal.«

Trotz aller musikalischen Erhabenheit darf eines nicht außer Acht gelassen werden: Die Neunte war auch stets ein Kassenschlager und eine sichere Finanzquelle. So kam Furtwänglers vorletzte Aufführung der Neunten mit dem Orchester im Dezember 1950 auf drängende Bitten der Philharmoniker zustande, die so kurz nach der Währungsreform Einnahmen bitter nötig hatten.

Fließendes Melos und differenzierte Klanglichkeit

Außerdem galt und gilt die Neunte als Werk für besondere Ereignisse: Zum 50. Geburtstag der Philharmoniker 1932 erklang sie ebenso wie 25 Jahre später zum 75. Bei diesem Ereignis stand Furtwänglers Nachfolger, Herbert von Karajan, am Pult und er dirigierte das Werk auch 1963 zur feierlichen Eröffnung der neuen, von Hans Scharoun konzipierten Philharmonie. Obwohl Karajan längst bewiesen hatte, dass er eine individuelle, überzeugende Interpretation des Werks abliefern konnte, wurde er immer noch an seinem Vorgänger gemessen: »Karajan drückte der Symphonie den Stempel seiner persönlichen, auf fließendes Melos und differenzierte Klanglichkeit zielende Musizierweise auf. Die Aufschwünge und Abstürze des ersten Satzes haben nicht die dämonische Größe, wie einst bei Furtwängler« (Kurier).

Gleichwohl entwickelte Karajan eine eigene, unverwechselbare Lesart, die Vorbildfunktion für die nachfolgenden Generationen besaß. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Neunte sehr viel seltener aufgeführt als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ihr kam immer mehr eine Leuchtturm-Funktion zu. Sie wurde bei den Oster- und Sommerfestspielen in Salzburg sowie im Rahmen von Karajans legendären Beethoven-Zyklen in Paris, London, New York und Japan gegeben.

Von verdischer Wucht und widerständig

Mit Claudio Abbado folgte ein Chefdirigent, der immer wieder klassische Meisterwerke in einen neuen programmatischen Kontext stellte. Als er die Symphonie zum ersten Mal mit den Berliner Philharmonikern präsentierte, stellte er dieser mit Wolfgang Rihms In-Schrift ein zeitgenössisches Werk voran. Im Jahr 2000 gab es ein kleines Jubiläum zu feiern: 10 Jahre Europakonzert. Das Orchester verreiste nicht wie gewohnt, sondern blieb in Berlin und präsentierte Beethovens Neunte, deren Melodie zu Schillers Ode seit 1985 die offizielle Hymne der Europäischen Union ist. Abbados Interpretation zeichnete sich durch Brillanz und Vitalität aus. »Einige dramatische Donnerschläge gerieten allerdings in Verdi-Nähe« (Der Tagesspiegel). Natürlich gehörte das Stück ebenfalls zu den beiden umjubelten Beethoven-Zyklen, die Abbado mit dem Orchester 2001 in Rom und Wien aufführte.

Auch in der Amtszeit von Sir Simon Rattle gab es herausragende Aufführungen der Neunten. Mehrfach erlebte das Publikum das Werk zusammen mit Kompositionen der Zweiten Wiener Schule: Schönbergs Variationen für Orchester und Werken für Chor und Orchester von Anton Webern. Am 25. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer begeisterten Rattle und die Berliner Philharmoniker mit einer Aufführung der Neunten. »Unter Rattle bekommt das Ringen nie titanische Schwere, bleibt zutiefst individuell, nicht glatt zu bürsten, widerständig« (Der Tagesspiegel). Es folgte 2013 das Waldbühnenkonzert mit Beethovens Neunter – als Vorschmack auf den kompletten Beethoven-Zyklus, den Simon Rattle in der Saison 2015/2016 mit den Philharmonikern spielte und aufnahm.

Und die Geschichte der Berliner Philharmoniker und Beethovens letzter Symphonie geht weiter – mit ihrem neuen Chef Kirill Petrenko. Das Programm für seinen Amtsantritt habe für ihn von vornherein festgestanden, so Petrenko im Mai bei einer Pressekonferenz: »Es gibt nur ein Werk, mit dem ich meine Tätigkeit hier in Berlin beginnen kann, Beethovens Neunte.«


Hans von Bülow Arthur Nikisch
(Foto: Archiv Berliner Philharmoniker)
Wilhelm Furtwängler