Die russische Moderne ist eine vielschichtige musikalische Landschaft, geprägt von Innovation, politischer Unruhe, Widerstandskraft und Exil. Von den kühnen Experimenten Igor Strawinskys und Sergej Prokofjews bis zur verschlüsselten Auflehnung bei Dmitri Schostakowitsch und Mieczysław Weinberg zeigt die Musik dieser Epoche die Kraft und die Gefahren künstlerischen Ausdrucks unter extremen Bedingungen.
Bei russischer Moderne denkt man vielleicht an die schneidenden Akkorde von Strawinskys Le Sacre du printemps, das wilde Hämmern in Alexander Mossolows futuristischer Eisengießerei oder die zornigen musikalischen Ausbrüche Schostakowitschs. Diese Musik ist nicht ohne ihren politischen Hintergrund zu verstehen: Das Blutvergießen und Grauen der Revolutionen von 1917, die erbarmungslose Verfolgung während Stalins »Großem Terror«. Die Komponisten dieser Zeit sind damit ganz unterschiedlich umgegangen und haben dabei zu unterschiedlichen musikalische Formen und Ausdrucksweisen gefunden.
Je fester Diktatoren an die Macht der Musik glauben, desto gefährlicher wird paradoxerweise das Leben für die Komponisten. Stalins Überzeugung, dass Musik für seine Politik von zentraler Bedeutung sei, machte schöpferische Inspiration zu einem lebensgefährlichen Wagnis. Staatliche Zensur war allgegenwärtig, ihre Bedrohung prägte das Schaffen sowjetischer Komponisten und bestimmt bis heute unser Bild der russischen musikalischen Moderne.
Nach der öffentlichen Verurteilung seiner Oper Lady Macbeth von Mzensk schlief Schostakowitsch auf einem schmalen Sofa im Flur – neben einem gepackten Koffer. Er hoffte, seine Familie würde nicht geweckt, sollte ihn die Geheimpolizei in der Nacht abholen.
Prokofjew arbeitete gerade am Klavierauszug seiner Oper Semjon Kotko, als er erfuhr, dass der Regisseur Wsewolod Meyerhold verhaftet worden war. Meyerhold wurde gefoltert und hingerichtet, seine Frau ermordet. Für Prokofjew war es ein bitterer Moment, in dem er erkannte: Stalins Russland war nicht das ersehnte Zuhause, nach dem er sich in seinen Jahren in Europa gesehnt hatte.
1936 war Prokofjew in die Sowjetunion zurückgekehrt – getrieben von Heimweh und enttäuscht von einem unglücklichen Exil in Paris, wo alle Welt nur von Strawinsky schwärmte. Umso verlockender erschien ihm die alte Heimat. Prokofjew baute darauf, dass das dortige Publikum sich eher für seine spezifische Vision einer modernen Musik begeistern werde: »Das sowjetische Leben hat sich positiv entwickelt, ich betrachte es voller Sympathie«, notierte er kurz vor seiner Heimkehr in sein Tagebuch. »Ich will Musik schreiben, die von einem breiten Publikum verstanden wird.«
Strawinskys Erfolg in Europa hingegen basierte auf einem gegenteiligen Ansatz. Nicht verständlich wollte er sein, sondern aufrüttelnd. Das gelang ihm vor allem mit dem Skandal um die Uraufführung von Strawinskys Le Sacre du printemps 1913 – ein Ereignis, das in Schlägereien im ausartete und vom Figaro-Kritiker Henri Quittard als »mühselige und kindische Barbarei« bezeichnet wurde.
Vielleicht hatte das Pariser Publikum sich von Strawinskys zugänglicheren Balletten Der Feuervogel und Petruschka (1910 und 1911) einlullen lassen – volkstümliche Melodik, gepaart mit farbenreicher Orchestrierung. 1920, als Strawinsky schließlich Pulcinella schrieb, war Russland von Revolution und Bürgerkrieg zerrissen. Strawinsky kehrte seiner Heimat endgültig den Rücken, ohne sich je wieder zur russischen Politik zu äußern, und fand im Neoklassizismus eine neue Heimat.
Prokofjew hingegen blieb in der Sowjetunion umworben und erhielt vom Kirow-Ballett den Auftrag zu Romeo und Julia. Das Werk wurde zum Sinnbild seiner Enttäuschung: Die Zusammenarbeit mit dem Kirow scheiterte, das Bolschoi-Theater hielt die Musik für »untanzbar«, die sowjetische Erstaufführung verzögerte sich bis 1940. Statt einer triumphalen Heimkehr begann für ihn eine Zeit wachsender künstlerischer Spannungen.
Schostakowitsch, der die Sowjetunion nie dauerhaft verließ, spürte den ideologischen Druck schon 1933, als er sein Konzert für Klavier und Trompete schrieb. Ursprünglich als reines Trompetenkonzert geplant, wurde es ein witziges Doppelkonzert, dessen heitere Oberfläche eine innere Unruhe verbarg. Bei der Uraufführung wurde der leichte Spott noch geduldet. Doch währenddessen arbeitete Schostakowitsch bereits an Lady Macbeth von Mzensk, die 1936 seine öffentliche Ächtung einleitete.
Während des »Großen Terrors« (1936–1938) wurden über 700.000 Menschen hingerichtet, Millionen in Lager deportiert. Komponisten standen vor der Wahl: Anpassung oder Vernichtung. Schostakowitsch balancierte zwischen Loyalität und verdecktem Widerstand, verschlüsselte seinen Protest in Musik, die der Zensur standhielt. Prokofjew hingegen versuchte, innerhalb des Systems zu arbeiten. Seine Werke im Sinne der Machthaber – wie die Kantate zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution (»Singt von unserem lieben Stalin, preist ihn im Lied…«) – blieben frei von jener Doppelbödigkeit, die Schostakowitsch meisterhaft beherrschte.
Am 5. März 1953 starben Prokofjew und Stalin am selben Tag. Die landesweite Trauer für Stalin ließ Prokofjews Beerdigung fast unbeachtet, sogar Blumen seines Grabes sollen für Stalins Aufbahrung entnommen worden sein.
Unmittelbar nach Stalins Tod schrieb Schostakowitsch seine Zehnte Symphonie – weithin als Abrechnung mit der Tyrannei verstanden. Der rasende zweite Satz gilt als musikalisches Porträt des Diktators: brutal, unerbittlich, mechanisch. Die Symphonie war eine Rückeroberung der eigenen Stimme – wenn auch kein Triumph. Es ist Musik des inneren Exils.
Die Ära des »Tauwetters« unter Nikita Chruschtschow erlaubte vorsichtige Experimente, die ideologischen Grenzen blieben jedoch bestehen. Schostakowitsch, Meister der Andeutung, arbeitete weiterhin mit der gleichen vorsichtigen Präzision wie zu Stalins Zeiten. Selbst seine oft als Unterhaltungsmusik abgetane Suite für Varieté-Orchester ist voller beißender Untertöne; in der Kammerfassung für Klaviertrio und Schlagzeug tritt der Kontrast zwischen äußerer Heiterkeit und innerer Spannung noch schärfer hervor.
Als sich unter Leonid Breschnew das politische Klima erneut abkühlte, schrieb Schostakowitsch 1971 seine 15. Symphonie – eine letzte, rätselhafte Geste des Widerstands. Gespickt mit Zitaten und persönlichen Chiffren, wirkt sie weniger wie ein großes Bekenntnis als wie eine leise Abrechnung. In der Kammerfassung treten ihre skelettartigen Strukturen noch deutlicher hervor.
Schostakowitschs Zeitgenosse Mieczysław Weinberg steht – wahrscheinlich zu Unrecht – im Schatten seines Freundes. Seine Burattino-Suite aus einer Kinderoper wirkt harmlos, birgt jedoch Themen von Widerstandskraft und Täuschung. Entstanden im »Tauwetter« der 1960er Jahre, zeigt sie den engen, aber hart erkämpften Raum, den Künstlern wie Weinberg für eine persönliche Stimme blieb – zwischen Vorsicht und Kreativität.
Die Werke, die Sie im Flex-Paket »Russische Moderne« erleben können, machen deutlich: Diese Moderne ist keine einheitliche Stilrichtung, sondern das Resultat ständiger Auseinandersetzung mit der Macht. Von Strawinskys Experimenten im Exil über Schostakowitschs verschlüsseltes Aufbäumen, von Prokofjews gescheiterter Anpassung bis zu Weinbergs leisen Allegorien – diese Musik erzählt vom äußeren Aufbruch und vom inneren Rückzug. Sie zeigt, dass Moderne in Russland für viele nicht nur eine Frage der Ästhetik war, sondern eine des Überlebens.
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