Die Berliner Philharmoniker und Chefdirigent Kirill Petrenko präsentieren mit ihrer dritten gemeinsamen Edition eine Hommage an Sergej Rachmaninow zu seinem 150. Geburtstag.
»Ich fühle mich wie ein Geist, der in einer ihm fremd gewordenen Welt umherwandert«, so Sergej Rachmaninow, »ich kann die alte Art zu schreiben nicht ablegen und kann mir die neue nicht aneignen. Trotz der Katastrophe, durchleben zu müssen, was dem Russland, in dem ich meine glücklichsten Jahre verbracht habe, widerfahren ist, habe ich stets das Gefühl, dass meine eigene Musik und meine Reaktionen auf alle Musik auf spiritueller Ebene dieselben geblieben sind, unendlich dienstbar im Bemühen darum, Schönheit zu erschaffen.«
Das Leben des Komponisten war geprägt von der Spannung zwischen der Sehnsucht nach einer sicheren Heimat einerseits und den politischen und persönlichen Umwälzungen andererseits. Letztere erforderten sich für Veränderungen zu öffnen. Einen Anker setzte sich Rachmaninow selbst in seiner Musik – in Werken von hyperromantischer Emotionalität, angetrieben von einem bedingungslosen Ausdruckswillen und dem Bekenntnis zu einer unzeitgemäßen Schönheit.
In ihrer dritten gemeinsamen Edition würdigen die Berliner Philharmoniker und ihr Chefdirigent Kirill Petrenko den russischen Komponisten im Jahr seines 150. Geburtstags. »Die Musik von Rachmaninow hat für mich eine überdimensionale Bedeutung«, sagt Kirill Petrenko in einem Gespräch für die Digital Concert Hall, »wann immer ich sie höre, ist das ein Stück Heimat«.
Schon lange zählt zu seinen Herzenswerken die Zweite Symphonie, die er nicht nur bei seinem philharmonischen Debüt 2006 dirigierte, sondern auch 2021 in einem Konzert, das zu einem historischen Ereignis werden sollte: Fünf Monate musste die Philharmonie Berlin aufgrund der Pandemie für das Publikum geschlossen bleiben – Konzerte fanden vor gespenstisch leeren Rängen und den Kameras der Digital Concert Hall statt.
Im März 2021 war es dann erstmals im Rahmen eines besonderen Pilotprojekts wieder möglich, dass 1000 Gäste ein Konzert im großen Saal der Philharmonie verfolgen konnten. Schon als das Orchester und Kirill Petrenko die Bühne betraten, verlieh das Publikum seiner Wiedersehensfreude überwältigenden Ausdruck – eine Freude, die auch vonseiten der Musikerinnen und Musiker nicht größer hätte sein können.
Die besondere Emotionalität des Anlasses fand ihren unmittelbaren Widerhall in der Interpretation von Rachmaninows drängend-sehnsüchtiger Zweiter Symphonie: »Das Orchester funkelte«, schrieb der Tagesspiegel, und Kirill Petrenko wusste »dieses Meisterwerk der Melancholie zum strahlenden Triumph zu führen. Danach langes Jubeln.«
Nicht nur Kirill Petrenko, auch die Berliner Philharmoniker verbindet eine direkte Linie mit dem Jubilar: 1903 führten sie sein Zweites Klavierkonzert auf, 1908 debütierte Rachmaninow selbst als Pianist beim Orchester mit diesem Werk.
Das Stück, das bis heute zu den populärsten des Komponisten zählt, vereint, was die Unmittelbarkeit seiner Tonsprache ausmacht: üppige Harmonik, pianistische Brillanz und der Mut, Gefühlen schier grenzenlosen Ausdrucksraum zu bieten. Die in der Edition enthaltene Aufnahme mit dem Pianisten Kirill Gerstein entstand in der knisternden Sommerabend-Atmosphäre des Waldbühnenkonzerts 2022.
Mit der Tondichtung Die Toteninsel und den Symphonischen Tänzen präsentiert die Edition zwei weitere bedeutende Werke Rachmaninows. Verbunden sind sie durch das wiederholt zitierte Dies irae-Motiv aus der Totenliturgie, das der Russe geradezu obsessiv in seinem kompositorischen Schaffen verwendete. Rastlos und bedrohlich schwankt die von Arnold Böcklins gleichnamigem Bild inspirierte Toteninsel im Fünfermetrum – ein eindringlich düsteres Tongemälde.
Der stramme Marschgestus im ersten der Symphonischen Tänze wiederum lässt festen Boden unter den Füßen vermuten. Doch schon das entrückt schöne Saxofon-Solo offenbart die nostalgische Stimmung, die Rachmaninow – fast 70 und bereits tödlich an Krebs erkrankt – im amerikanischen Exil bedrückte.
»Indem ich die Heimat verlor, verlor ich mich selbst«, bekannte er. Doch nicht nur die Entfernung zu seinem Geburtsland mag Rachmaninows Gefühl der Entwurzelung ausgelöst haben, sondern auch die fehlende Akzeptanz des amerikanischen Publikums für seine einer anderen Zeit verhafteten Musik.
In den Symphonischen Tänzen blickt Rachmaninow in vielsagenden Anspielungen wehmütig auf eigene und fremde Werke zurück, kleidet seine Tonsprache aber zugleich in ein modernisiertes Gewand im Big-Band-Stil.
Der dritte und letzte Tanz – eingeleitet von zwölf schicksalhaften Glockenschlägen – paraphrasiert wiederholt das Dies irae-Thema. Dessen Gegenpart führt Rachmaninow erst in der Coda ein: ein freies Zitat aus dem neunten Satz seiner Ganznächtlichen Vigil – einer Musik, die liturgisch vor dem Ostermorgen und Christi Auferstehung platziert ist.
Deutet Rachmaninow hier in seinen Symphonischen Tänzen einen hoffnungsvollen Ausblick an, das Erschließen einer spirituellen Heimat in der »fremd gewordenen Welt«? Vielleicht. Der Komponist äußerte sich nicht zu seinem bewegenden Opus ultimum, mit dem die Berliner Philharmoniker und Kirill Petrenko ihre Hommage an Rachmaninow beschließen.