Von: Bjørn Woll
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Raphael Pichon | Bild:  Piergab

Als junger Countertenor sang er unter Dirigenten wie Jordi Savall, Gustav Leonhardt und Ton Koopman. Mit 22 Jahren gründete er 2006 das Ensemble Pygmalion und erregte mit herausragenden Aufführungen rasch internationale Aufmerksamkeit. Nun gibt Raphaël Pichon im Dezember sein Debüt bei den Berliner Philharmonikern.

Bachs Johannes-Passion sang. Ein Schock sei das damals gewesen, wie „eine Explosion in meinem Kopf“. Ein Erlebnis, das lange nachwirkte, oder wie er selbst es formuliert: „Bach hat mein Leben verändert.“ Wenn der „derzeit beste Bach-Dirigent“, wie Raphaël Pichon vor einiger Zeit von der Süddeutschen Zeitung geadelt wurde, in dieser Spielzeit gleich zweimal nach Berlin kommt, verwundert es also wenig, wenn er auch zweimal Bach im Gepäck hat: Im Oktober spürte er mit dem von ihm gegründeten Spezial-Ensemble Pygmalion den verschiedenen Einflüssen auf den noch jungen Bach nach, im Dezember – bei seinem Debüt bei den Berliner Philharmonikern – steht die h-Moll-Messe auf dem Programm, die oft als Bachs kompositorisches Vermächtnis gelesen wird.

Dem Orchester verbunden fühlt sich der 1984 in Paris geborene Dirigent schon lange: „Meine erste Begegnung mit den Berliner Philharmonikern war eine Aufnahme von Mozarts Requiem mit Karajan auf einer LP in der Plattensammlung meiner Eltern“, erinnert er sich. „Es ist das einzige Orchester, das ich seit meiner Kindheit verfolge, erst auf LP, dann auf CD und heute mit der Digital Concert Hall.“ Über die Jahre sei dabei eine Art intimer Hör-Beziehung entstanden, „wie bei einer Familie mit einem langen Stammbaum, bei der sich über die Generationen die Mitglieder verändern“.

Nun sitzt er also – um im Bild zu bleiben – zum ersten Mal am Kopf des Familientisches, eine „irgendwie auch beängstigende Vorstellung, weil ich das Orchester und die Musiker so sehr respektiere“. Die Entscheidung für das Programm wurde gemeinsam getroffen, im Familienrat, wenn man so will. „Wir wollten einen Raum finden, in dem wir uns zu Hause fühlen. Und das ist bei mir der Fall mit der Musik von Bach. Aber auch das Orchester hat eine Verbindung zu Bach, die lange zurückreicht. Die Berliner Philharmoniker haben zum Beispiel früh schon mit Nikolaus Harnoncourt gearbeitet, einem der großen Pioniere der historischen Aufführungspraxis. Dieses Erbe müssen wir als neue Generation bedenken.“

Eben dieses Erbe hat Raphaël Pichon schon als junger Künstler „mit der Muttermilch“ aufsaugen können, wie er sagt. Damals war er noch Countertenor, stand regelmäßig mit den Altvorderen der Alte-Musik-Bewegung auf der Bühne. Geprägt haben ihn unter anderem der „dramatische Zugriff von John Eliot Gardiner, die humanistische Überzeugung von Jordi Savall, die Empathie und pure Freude von Ton Koopman oder die ästhetischen Ideale von Philippe Herreweghe“. Als wichtigsten Einfluss nennt er jedoch Nikolaus Harnoncourt, der als junger Musiker selbst Cellist bei den Wiener Symphonikern war. Persönlich getroffen hat er ihn allerdings nie. „Das bedaure ich sehr, denn für Harnoncourt war Musik immer eine Frage von Leben und Tod, ein Grundbedürfnis des Menschen.“

Exertise und Tradtion

Um existenzielle Themen geht es indes auch in Bachs Messe. Seit 15 Jahren kehrt Raphaël Pichon mit seinem Ensemble Pygmalion, das auf historischen Instrumenten spielt, immer wieder zu dem Werk zurück, versucht seine Geheimnisse aus immer neuen Perspektiven zu ergründen, auf der Grundlage der jahrelangen gemeinsamen Erfahrung. Für sein Debütkonzert mit den Berliner Philharmonikern lotet er Bachs Meisterwerk nun zum ersten Mal mit modernen Instrumenten aus. Auf die Frage, ob das nicht schwierig sei, hat er eine klare Antwort: „Diese Frage stellt sich mir gar nicht. Jeder einzelne Musiker in diesem Orchester ist sich zu 150 Prozent bewusst darüber, wie sich unsere Sicht auf dieses Repertoire verändert hat. Die einzigen Fragen, die ich mir stelle, sind: Was ist das für ein Stück? Was will es uns erzählen?“

Die Ausdruckstiefe, die Raphaël Pichon im Laufe der Zeit mit Bachs h-Moll-Messe erreicht hat, lässt sich ermessen, wenn man die kürzlich erschienene Einspielung mit dem Ensemble Pygmalion anhört: Verblüffend, wie leicht, elegant, fast tänzerisch der Dirigent und seine Mitstreiter darin agieren. Der Chorklang überwältigt mit Schönheit, das Orchester mit raffinierten Farben, getragen von großer Herzenswärme und Innigkeit. Durchaus spannend also, wie die Lesart mit den Berliner Philharmonikern klingen wird, wenn die Bach-Expertise des Dirigenten auf die Bach-Tradition des Orchesters trifft. Auf jeden Fall wird es der nächste Ast im stetig wachsenden Familienstammbaum.