Tödliche Spielsucht

Peter Tschaikowskys Oper »Pique Dame«

In der vorletzten seiner zehn Opern zeigt sich Peter Tschaikowsky auf der Höhe seiner Kunst. Pique Dame ist eine Geschichte um Liebe, Eifersucht und Geld, in der das Kartenspiel zur Obsession wird.

Pech im Spiel, Glück in der Liebe? Der Offizier Hermann aus Peter Tschaikowskys Oper Pique Dame kennt kein Entweder-oder. Natürlich beansprucht er für sich das Glück im Spiel und in der Liebe. Das eine, der richtige Riecher im Kasino, scheint ihm sogar die Voraussetzung für das andere zu sein, nämlich für sein Ziel, die Gunst der schönen Lisa zu gewinnen.

Denn wie, wenn nicht mit Geld, sollte er, der mittellose Bürgerssohn, die junge Adelsdame von sich überzeugen? Schlecht allerdings, dass sich Hermann bei seinem Versuch, das schier Unmögliche zu erreichen, hoffnungslos verrennt. Nicht nur, dass er seiner eigenen Spielsucht erliegt; er beginnt auch an mysteriöse Kräfte zu glauben, verschuldet den Tod von Lisas Großmutter, verrät die Geliebte und treibt sie schließlich sogar in den Selbstmord, ehe auch er sich das Leben nimmt. Was ist von so einem Helden zu halten?

Rückhaltlose Identifikation

Peter Tschaikowsky liebte seinen Hermann, diesen zweifelhaften Charakter, mehr als alle seine anderen Opernfiguren. »Als ich am Tod Hermanns und am Schlusschor anlangte, überkam mich ein solches Mitleid mit Hermann, dass ich mit einmal heftig zu weinen begann. Dieses Weinen hielt schrecklich lange an, wandelte sich aber zu einer sanften Hysterie der angenehmsten Art«, schrieb Tschaikowsky am 15. März 1890 in einem Brief. »Ich versuchte zu begreifen, weshalb ich nur immerzu weinen wollte. Mir scheint, dass Hermann nicht bloß den Vorwand bot, diese oder jene Musik zu schreiben, sondern während all der Zeit wie ein richtiger, lebender Mensch um mich war und mir dabei auch noch überaus sympathisch wurde.«

Hermann, wie Tschaikowsky ihn darstellte, war ganz und gar sein eigenes Geschöpf. Er hatte ihn sich so geformt, wie er ihn brauchte, um in die richtige Stimmung zum Komponieren zu geraten – und das klappte nur, wenn er sich in ihn hineinversetzen, sich mit ihm rückhaltlos identifizieren konnte Mit dem Hermann, wie er in der literarischen Vorlage zur Oper, in Alexander Puschkins Erzählung Pique Dame, geschildert wurde, hatte dieses Profil allerdings wenig gemein.

In der 1833 entstandenen Novelle zeigt Hermann zwei Gesichter: Nach außen gibt er sich ehrgeizig und strebsam, diszipliniert und anpassungsfreudig – dass er auch noch deutsche Wurzeln hat, erwähnt Puschkin mit einer spitzen Randbemerkung. In Hermanns Innerem aber öffnen sich Abgründe.

Wie ein Junkie ist er dem Glücksspiel verfallen, hängt Abend für Abend in den Petersburger Salons ab, wo er, zitternd vor Begierde, das Geschehen am Spieltisch verfolgt, allerdings ohne jemals selbst den Einsatz zu wagen. Das ändert sich, als er hört, dass eine alte Gräfin das Geheimnis dreier unfehlbarer Karten kenne.

Hermann setzt nun alles daran, diese Erfolgsformel zu erfahren. Nur deshalb – und nicht aus Liebe – macht er sich an die junge Lisa heran, bei Puschkin ein Pflegekind der Gräfin. Er überlegt sogar, ob er sich nicht selbst der 87-Jährigen als Liebhaber anbieten sollte.

Als das Verhängnis seinen Lauf nimmt, endet Puschkins Hermann im Irrenhaus. Auch Lisa bleibt am Leben: Sie »hat sich mit einem sehr liebenswürdigen jungen Mann vermählt. Er ist irgendwo angestellt und bezieht ein anständiges Gehalt«, lässt Puschkin das Lesepublikum am Ende lapidar wissen.

Maliziöse Ironie

Wie prosaisch! Mit dieser Geschichte wollte Tschaikowsky nicht warm werden. »Ein Stoff wie Pique Dame berührt mich nicht, und ich würde kalt und gleichgültig daran arbeiten«, stellte er noch im Frühjahr 1888 fest. Zum Glück gab es seinen Bruder Modest. Der hatte schon im Jahr zuvor aus Puschkins Erzählung ein Szenarium für den Komponisten Nikolai Klenowsky entwickelt, das aber unvertont blieb.

Erst als der Direktor des Kaiserlichen Theaters Petersburg 1889 auf die Tschaikowsky-Brüder zukam und sie ganz gezielt auf Pique Dame ansprach, zog Modest das Skript wieder aus der Schublade. Es bedurfte allerdings einiger Überzeugungsarbeit, um Peters Widerstände zu brechen, denn Puschkins maliziöse Ironie, seine Distanz zu den Figuren und sein schonungsloser Blick auf die Gesellschaft befremdeten ihn.

Doch die Kunst ist frei, Puschkin war seit über 50 Jahren tot, und so machten sich die Geschwister unerschrocken daran, die Geschichte so zurechtzubiegen, dass ihre Psychologie fast schon auf den Kopf gestellt wurde. Peter Tschaikowsky war ein durch und durch romantischer Charakter. Er glaubte an die Liebe, an die tiefen, ehrlichen Gefühle.

Dass aus Hermann zunächst einmal ein echter Liebhaber werden musste, war für ihn deshalb die oberste Prämisse. Schon bei seinem ersten Auftritt lässt Tschaikowsky ihn bekennen, wie unsterblich verliebt er sei und dass er sein Herz an eine schöne Fremde verloren habe, deren Namen er nicht einmal wisse. Aber dieses Dilemma ist rasch behoben.

Wie einen Deus ex Machina lässt Tschaikowsky die geheimnisvolle Dame, Lisa lautet ihr Name, sogleich auftauchen, leider am Arm ihres Verlobten, des Fürsten Jelezki. Dieser adelige Kavalier hat nun gar nichts mehr mit Puschkin zu tun, er ist eine Erfindung der Brüder Tschaikowsky und verdankt sich der dramaturgischen Raison.

Eine große Liebe will schließlich errungen sein, auch gegen Widerstände, wie sie sich hier in Gestalt des Rivalen personifizieren.

Dass Lisa ihrerseits dem Fürsten wenig abgewinnen kann, sich dafür umso mehr zu ihrem Bewunderer Hermann hingezogen fühlt, der sie mit glühenden Blicken anhimmelt, schürzt den Knoten für die nachfolgende Tragödie.

Noch am selben Abend, als Hermann vor ihrem Fenster auftaucht, kommt es zu einer Liebesszene, und einem hinreißenden Duett mit dem sich rauschhaft emporschwingenden Liebesthema.

Fatales Eheexperiment

Kann Musik lügen? Nicht bei Tschaikowsky! Wenn Hermann die angebetete Lisa mit den Worten »Göttin! Engel!« in die Arme schließt, dann ist das ganz und gar ernst gemeint und hat mit Berechnung à la Puschkin nichts zu tun. Tschaikowsky selbst wusste nur zu gut, dass mit Kalkülnichts zu gewinnen ist.

Als er 1877 aus taktischen Gründen seine Schülerin Antonina Miljukowa heiratete, weil er fürchten musste, dass seine Homosexualität publik werden könnte, stürzte er in eine schwere psychische Krise. Nach wenigen Wochen trieb ihn das fatale Eheexperiment sogar zu einem Selbstmordversuch.

Dass seine Neigung zu Männern gesellschaftlich nicht akzeptiert wurde, dass man die gleichgeschlechtliche Liebe im zaristischen Russland sogar juristisch verfolgte und mit Verbannung bestrafte, empfand er als sein Fatum: »eine Macht, die wie ein Damoklesschwert über unserem Haupte schwebt und unsere Seele unentwegt vergiftet«. Mit diesen Worten umriss er das Phänomen in einem Kommentar zu seiner Vierten Symphonie, der ersten seiner drei »Schicksalssymphonien«.

Auch Hermann, Tschaikowskys Wiedergänger auf der Opernbühne, leidet unter dem »unergründlichen Walten der Vorsehung«, muss sich seinem Schicksal beugen. Weil ihm klar ist, dass er als bürgerlicher Offizier der adeligen Lisa nicht ebenbürtig ist, hofft er, das Manko durch Reichtum beheben zu können und wird zum besessenen Spieler.

Da trifft es sich, dass Lisa die Enkelin einer alten Gräfin ist, von der ihm sein Freund Tomski erstaunliche Dinge berichtete. Einst sei die betagte Dame in Paris als »Venus von Moskau« und »Königin des Spiels« gefeiert worden; sie wisse um das Geheimnis von drei Karten, die unfehlbar zum Gewinn führten.

»Try karty, try karty, try karty«: Schon bei der ersten Erwähnung des ominösen Siegesblatts in Tomskis Ballade unterlegt Tschaikowsky die fatalen Worte mit einer dieser absteigenden melodischen Linien, die zum Schicksalsmotiv für Hermann werden, ähnlich wie die bohrende Trompetenfanfare in der Vierten Symphonie, mit der Tschaikowsky sein eigenes Los in Klänge setzte.

Sonderbare Visionen

Hermann ist fortan nur noch von einem Gedanken besessen: Er muss das Rätsel der drei Karten lösen. Deshalb lässt er sich von Lisa den Schlüssel zum Schlafzimmer der Gräfin aushändigen und lauert ihr dort auf. Doch stirbt sie vor Schreck, als Hermann sie mit der Pistole bedroht, und nimmt ihr Geheimnis mit ins Grab. Oder doch nicht?

Zurück in der Kaserne überkommen den völlig verstörten Hermann sonderbare Visionen. Er sieht die tote Gräfin vor sich, die ihm zwinkernd zuflüstert: »Drei, Sieben, As.« Das ist es, glaubt Hermann, und wimmelt sogar die tief enttäuschte Lisa ab, die das Verhalten des Geliebten als Verrat empfindet und den Freitod in der Newa sucht. Diese Volte im Opernlibretto spiegelt übrigens die eigene Erfahrung Tschaikowskys, der seinen Selbstmord 1877 auch in eisigen Fluten versucht hatte.

Hermann aber realisiert nicht einmal mehr, was mit Lisa geschieht, er hat nur noch das Kasino im Sinn, setzt dort auf die Drei – und gewinnt. Setzt auf die Sieben – und triumphiert. Beim dritten Einsatz wagt allein der gekränkte Rivale Jelezki gegenzuhalten. »As«, verlangt Hermann – und scheitert: Gezogen wird die Pik Dame. Alles ist aus, Hermann kann sich nur noch erschießen, das Schicksal hat sein Zerstörungswerk vollendet.

Tschaikowskys Pique Dame berührt, weil sie Charakterschwächen nicht denunziert, sondern Mitgefühl zeigt und das Verhalten der Figuren menschlich motiviert. Natürlich spielt seine wunderbare Musik dabei die Hauptrolle. In der vorletzten seiner zehn Opern zeigt sich Tschaikowsky auf der Höhe seiner Kunst, mit einer erstaunlichen Vielfalt an Spielarten.

Das Spektrum erstreckt sich von folkloristisch angehauchten Romanzen und Tanzliedern über ein rokokohaftes Schäferspiel in der Ballszene und Reminiszenzen an die Opéra comique des 18. Jahrhunderts bis zu dem nachtschwarzen Orchestersound, der in den dramatischen Schlüsselmomenten Abgründe aufreißt.

Tschaikowsky stimmt zarte, lyrische Klänge an und wagt leidenschaftliche Ausbrüche; er beherrscht den eleganten Konversationsstil genauso gut wie die schaurige Ausdruckskunst in der großen Szene der alten Gräfin. An dieser Stelle, so gestand er, »überkommt mich eine solche Furcht und Erschütterung, dass es schier unmöglich ist, sich auch nur vorzustellen, das Publikum empfände nicht wenigstens einen Teil dieser Ängste«.

Susanne Stähr

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