Schönberg und Rachmaninow: Wie gegensätzlich musikalische Welten zu Beginn des 20. Jahrhunderts sein konnten, zeigt das Programm der südkoreanischen Dirigentin Eun Sun Kim für ihr Debüt bei den Berliner Philharmonikern. Eine Begegnung.
Es läuft für Eun Sun Kim. Und wie es läuft! Als Operndirigentin spielt sie in der ersten Liga der internationalen Häuser, 2021 gab sie mit La bohème ihr umjubeltes Debüt an der Metropolitan Opera in New York und kurz vor dem Jahreswechsel stellte sie sich mit Hoffmanns Erzählungen erstmals dem Publikum an der Pariser Oper vor. Aber auch an der Mailänder Scala oder der Wiener Staatsoper stand sie bereits auf den Brettern, die die Opernwelt bedeuten.
Nicht weniger erfolgreich ist sie im Konzertsaal, im Februar gab sie ihr Debüt beim New York Philharmonic, im April dirigiert sie zum ersten Mal die Berliner Philharmoniker. Mit einer Mischung aus Vorfreude und Respekt blickt sie auf die Konzerte und spricht dabei von einem Paradox, »das mir schon seit dem Anfang meiner Karriere bewusst ist: Wenn ich ein Stück zum ersten Mal dirigiere, sagen wir mal die Fünfte von Beethoven, sitzen vor mir Orchestermusiker, die das wahrscheinlich schon etliche Male gespielt haben – und trotzdem ist es meine Aufgabe als Dirigentin, das Orchester zu führen. Nicht, weil ich es besser weiß, sondern weil das Teil meines Berufes ist.«
Wenn Eun Sun Kim über sich und ihren Beruf erzählt, hat das etwas unaufgeregt Bodenständiges. Außerdem lässt sie immer wieder ihr herzhaftes Lachen hören, das so überaus ansteckend ist. Wir unterhalten uns per Videochat, am Vortag des Gespräches hat sie die Generalprobe für Wagners Parsifal an der Houston Grand Opera dirigiert. Und sogleich schwärmt die 1980 in Südkorea geborene Dirigentin von »beglückenden Momenten«, wenn am Ende einer Opernproduktion alle Zahnräder reibungslos ineinandergreifen.
Dabei wollte sie eigentlich überhaupt nicht Dirigentin werden, studierte zunächst Komposition in ihrer Heimatstadt Seoul und war Repetitorin für die Opernproduktionen an der Hochschule. Einer ihrer Professoren überzeugte sie schließlich, Dirigentin zu werden, eine Entscheidung, »die ich nicht bereut habe«. Später setzte sie ihr Studium noch in Stuttgart fort.
Obwohl sie längst an den ganz großen Häusern angekommen ist, hat sie ihre Anfänge an den deutschen Stadttheatern nicht vergessen: »Die kleinen Orte wie Jena oder Cottbus, an denen ich am Anfang viel dirigiert habe, sind ein wichtiges Fundament für mich. Ohne sie wäre ich nicht da, wo ich heute bin.« Ein weiterer wichtiger Einfluss sei Kirill Petrenko, »und das nicht, weil ich bald mein Debüt bei den Berliner Philharmonikern gebe«, ergänzt sie mit einem Lachen.
2011 hat sie dem aktuellen Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker assistiert, »das hat mein Denken über das Dirigieren komplett verändert: Wie man mit einer Partitur arbeitet, wie man mit einem Orchester arbeitet und mit welcher Haltung man sich vor die Musiker stellt. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er weiter geht, dass seine Arbeit dort anfängt, wo andere oft schon aufhören.« Und auch Simone Young ist ihr Vorbild, »die seit den frühen 90er-Jahren als Dirigentin eine echte Pionierin und Wegbereiterin war. Weil es Menschen wie sie gab, haben wir es heute leichter.«
Wahre Worte, denn Eun Sun Kim gehört zu einer ganzen Reihe von jungen Dirigentinnen, die mit Nachdruck in die ehemalige Männerdomäne eingebrochen sind und längst auch zentrale Positionen in der Branche besetzen. Sie selbst ist seit einigen Jahren Musikdirektorin der San Francisco Opera, nachdem sie dort 2019 ihr Debüt mit Rusalka gegeben hat und offensichtlich nicht nur Publikum und Kritiker verzückte, sondern gleich auch das Orchester.
Ihre Leidenschaft für die Oper spiegelt sich indes auch in ihrem Antrittskonzert bei den Berliner Philharmonikern: »2024 ist ja Schönberg-Jahr, es sollte also ein Werk von ihm sein, was mir sehr recht war, und unsere Wahl fiel auf Erwartung. Ein Stück mit Gesang – weil ich von der Oper komme – erschien uns auch eine gute Idee für das erste Kennenlernen.«