Erwin Schulhoff, Spross einer Prager deutsch-jüdischen Kaufmannsfamilie, war eine musikalische Frühbegabung. Kein Geringerer als Antonín Dvořák soll sein Talent entdeckt haben. Bereits mit 16 Jahren unternahm er eine erste Konzertreise, nur drei Jahre später schloss er seine Studien am Kölner Konservatorium ab und erhielt noch im selben Jahr in Berlin den renommierten Felix-Mendelssohn-Preis. Eine glänzende Musikerkarriere schien ihm bevorzustehen, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Schulhoff erlebte ihn als »förmliche Sintflut«, die »alle erworbene Kultur der europäischen Menschheit« zu vernichten drohte. Nach »4-jähriger Knechtschaft im Felde«, notierte er Ende 1918 in sein Tagebuch, werde er nun seinen eigenen »trotzigen Weg« in ein neues künstlerisches »Zukunftsland« gehen.
Anfang 1919 zog Schulhoff nach Dresden, wo er die Reihe »Fortschrittskonzerte« mit Werken von Arnold Schönberg, Alban Berg und anderen Vertretern der zeitgenössischen Moderne organisierte, um das Publikum mit der »Musikrevolution« bekannt zu machen. Seine Inspirationsquelle wurde der Dadaismus, eine Kunstrichtung, die 1916 im Züricher Cabaret Voltaire gegründet wurde. »Was wir Dada nennen«, erklärte Mitbegründer Hugo Ball, »ist ein Narrenspiel; ein Spiel mit den schäbigen Überbleibseln; eine Hinrichtung der posierten Moralität und Fülle. Der Dadaist liebt das Außergewöhnliche, ja das Absurde. Jede Art Maske ist ihm darum willkommen. Jedes Versteckspiel, dem eine düpierende Kraft innewohnt.«
Schulhoff begeisterte sich sofort für diese Kunstrichtung, es entstanden seine ersten dadaistischen Kompositionen, die zeigen, dass den abendländischen Musiktraditionen radikal der Rücken gekehrt wurde. Musik sollte, so lautete Schulhoffs damaliges Credo, »in erster Linie durch Rhythmus körperliches Wohlbehagen, ja sogar Ekstase erzeugen, sie ist niemals Philosophie«. Die Symphonia germanica, eine sarkastische Parodie des Deutschlandliedes, nimmt beispielsweise all jene Männer aufs Korn, die trotz der Kriegsniederlage 1918 noch vom Heldentod träumten.
Im Herbst 1920 übernahm Schulhoff eine Klavierprofessur an einem Privatkonservatorium in Saarbrücken. Fernab der kulturellen Metropolen hielt er an seiner Dada-Begeisterung fest. Und als Dadaist verstand er sich auch noch, als er Anfang 1922, frisch vermählt, nach Berlin zog, um wieder Anschluss an das zeitgenössische Kunst- und Musikleben zu finden. Der dortige Dada-Zirkel hatte sich inzwischen aber mehr oder weniger aufgelöst. 1924 kehrte er nach Prag zurück, wo er als Pianist und Komponist arbeitete.
Kaum ein Komponist seiner Generation war so neugierig, experimentierfreudig und respektlos wie er. Nicht allein der Dadaismus inspirierte ihn: Die Rhythmen des neuaufgekommen Jazz und den Swing der damaligen Modetänze wusste er einfallsreich mit der atonalen Harmonik avantgardistischer Stilrichtungen zu verbinden. Später wandelte sich seine Ästhetik: Als überzeugter Kommunist, der sogar das Manifest der Kommunistischen Partei vertonte, orientierte er sich an den Anforderungen des sozialistischen Realismus, sein Stil wurde eingängiger und verständlicher.
1941erhielt Schulhoff die sowjetische Staatsbürgerschaft und wollte mit seiner Familie in die Sowjetunion emigrieren. Das wurde ihm zum Verhängnis: Als Jude, Kommunist und Schöpfer »entarteter Musik« durfte er nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten ab 1933 in Deutschland und ab 1939, nach der Besetzung der Tschechoslowakei, auch in seiner Heimat nicht mehr auftreten. Als sowjetischer Staatsbürger galt er sogar als »feindlicher Ausländer« und kam in das bayerische Internierungslager Wülzburg, wo er 1942 im Alter von 48 Jahren an Tuberkulose starb.
1894: Geburt in Prag
1904: Aufnahme in die Klavierklasse des Prager Konservatoriums
1906: Studium in Wien
1908: Studium in Leipzig, u.a. bei Max Reger
1911: Studium in Köln
1913: Wüllner-Preis
1914-18: Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg
1918: Mendelsohn-Preis
1919: Umzug nach Dresden, Bekanntschaft mit den Malern George Grosz und Otto Dix
1920: Klavierlehrer in Saarbrücken
1922: Umzug nach Berlin
1924: Rückkehr nach Prag; Musikreferent beim Prager Abendblatt
1924: UA des Streichsextetts Kammermusikfest Donaueschingen
1927-29: Komposition der Oper Flammen nach dem Libretto von Max Brod
1931: Mitglied der kommunistischen »Lefá fronta« (Linken Front)
1932: Oratorium Das Manifest nach Marx/Engels
1935-39: Rundfunkpianist in Mährisch Ostrau
1941: Sowjetischer Staatsbürger, Internierung in Wülzburg
1942: Tod in Wülzburg