Von: Malte Krasting
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Abstraktes Gemälde mit fließenden Strudeln aus Türkis, Gold und Weiß, die diagonal über die Leinwand verlaufen und einen dynamischen, wellenartigen Effekt mit fließenden, organischen Formen und weichen Übergängen erzeugen.

Für die Komponistinnen und Komponisten der Romantik war es eine entscheidende Frage: Wie sollte man noch Symphonien schreiben, wo doch Beethoven alles Wesentliche zu dieser Gattung gesagt hatte? Die Antworten fielen unterschiedlich aus. Manche schrieben unbeirrt Werke nach traditionellen Mustern, die heute alle vergessen sind. Johannes Brahms hingegen wählte einen mühevolleren Weg: Er erfand die Symphonie neu.

Keine Einführung zur Ersten Symphonie von Johannes Brahms verzichtet auf den Hinweis, wie lang sich der Komponist mit diesem Werk beschäftigt hat (gut 15 Jahre), wie schwer es ihm gefallen ist, sich überhaupt zu einer Symphonie durchzuringen (»Ich werde nie eine Symphonie schreiben!«) und wie sehr ihn der Schatten des großen Beethoven dabei eingeschüchtert hat (»du hast keinen Begriff, wie es unsereinem zumute ist, wenn er immer so einen Riesen hinter sich hermarschieren hört«). 

Nun könnte man fragen: Was war eigentlich so mühevoll an diesem Unterfangen? Der äußere Rahmen für eine Symphonie mit ihren vier Sätzen und deren ungefähren Charakteren und Formen stand seit Beethoven fest, und daran sollte sich auch Brahms in seinen vier Symphonien halten. Symphoniker der Generation vor Brahms haben sich mit der Gattung augenscheinlich leichter getan. Neben Felix Mendelssohn und Robert Schumann sind hier viele unbekanntere Komponisten zu nennen wie Robert Volkmann, Joachim Raff, Anton Rubinstein und Carl Reinecke – alles Schwergewichte der Epoche, die allerdings auf heutigen Konzertprogrammen kaum noch auftauchen. Die Dauerhaftigkeit von Brahmsʼ Symphonien signalisiert, dass seine Werke von einem anderen Rang sind. Aber was macht diesen Rang aus?

Symphonien für alle

Im Laufe der Wiener Klassik wandelte sich das Verständnis vom Wesen der Symphonie –entsprechend eines sich ändernden Konzertlebens. Waren Joseph Haydns frühe Symphonien an eine kleine höfische Zuhörerschaft von fürstlichen Gnaden adressiert, schrieb er seine letzten (die »Londoner«) für ein großstädtisches, bürgerliches Publikum. Beethoven schließlich richtete sich (wie es im Text von Schillers Ode An die Freude heißt) an die »ganze Welt«. Das hatte Auswirkungen auf die Ansprüche an die Gattung. Die Genieästhetik des romantischen Zeitalters verlangte Größe und vor allem Neuheit von einem symphonischen Meisterwerk, wobei sich die Erwartungen mit der Zeit wandelten. Während die Symphonie zunächst als die reinste Kunstform gepriesen wurde, weil sie keinen Zweck erfüllen, keine Geschichte illustrieren musste, wurden bald Stimmen laut, wonach die Symphonie eher ein instrumentales Drama zu sein hatte – wie bei E. T. A. Hoffmann, der von einer »Oper der Instrumente« sprach.

Die Reaktionen auf die gestiegenen Ansprüche an die Symphonie waren unterschiedlich, ja gegensätzlich. Manche befüllten weiter unverdrossen das von Haydn und Beethoven überkommene Gerüst mit mehr oder weniger originellen Einfällen. Schon Mendelssohn und Schumann rangen grundsätzlicher um die symphonische Form, erweiterten sie um weitere Sätze (in Schumanns »Rheinischer«) oder fügten Text und Gesang hinzu (in Mendelssohns »Lobgesang«). Noch andere suchten ihr Heil in der Verschmelzung von Gattungen – wie Franz Liszt, der in seinen symphonischen Dichtungen klangillustrativ literarische Handlungen nachzeichnete. 

Richard Wagner wiederum ging von einer »Unmöglichkeit aus, auf dem Gebiete der Symphonie nach dem Vorgange Beethovens noch Neues und Beachtenswertes zu leisten«; dessen Nachfolger erschienen ihm »wie Menschen, die uns auf eine oft reizend umständliche Weise mitteilen, dass sie uns nichts zu sagen haben«. Brahms dachte darüber gar nicht so verschieden: »Wenn man wagt, nach Beethoven noch Symphonien zu schreiben, so müssen die ganz anders aussehen!«, meinte er 1859/60. Allerdings widersprach er Wagners These, nach Beethovens Neunter könne die Symphonie nur im Musikdrama weiterleben. Er sah durchaus eine Zukunft für die Gattung, die nur eben ein neu gestaltetes inneres Gewebe brauche.

Andere waren mit dem konzeptionellen Status quo vollauf zufrieden. Bei Brahms dagegen muss man beim Hören wachsam sein: Kaum ein Takt gleicht dem anderen, und notengetreue Repetitionen sind rar. Brahms meinte sogar, er könne – nachdem er seine Erste Symphonie in den wichtigsten Städten eingeführt habe – auch auf die Wiederholung der Exposition im ersten Satz verzichten. Im Grunde beginnt schon mit der Themenvorstellung ihre Veränderung; »entwickelnde Variation« nannte Arnold Schönberg später dieses Prinzip des ständigen Abwandelns. Alles ist miteinander verwoben, nichts steht mechanisch nebeneinander.

Die Melodie erzeugt die Begleitung und umgekehrt, selbst die gegensätzlichsten Gedanken sind unterschwellig verwandt, und alle Stimmen werden gleichrangig behandelt. Wenn Brahms einmal ein eingängiges Thema einführt wie mit dem Alphornruf oder dem Hymnus im Finale der Ersten, sticht die Ausnahme so deutlich hervor, »dass das gleich jeder Esel hört« (Brahms). Seine Symphonien mussten sich für ihn quasi zwingend aus ihren Themen ergeben.

Ein behutsames Herantasten

Diese Verdichtung erforderte ein behutsames Herantasten. Viele Jahre betrieb Brahms kontrapunktische Studien, tauschte mit seinem Freund, dem Geiger und Dirigenten Joseph Joachim, entsprechende Übungen aus, bildete sich in Stimmführung, erdachte ausgetüftelte Spielereien wie Spiegelkanons und Doppelfugen. Um sich die Spezifika der Instrumente anzueignen, übte er sich in der Beherrschung des orchestralen Apparats, mit seinen beiden dreiviertelstündigen Serenaden (nur an der Oberfläche leichtgewichtigere Erscheinungen), mit seinem ausladenden Ersten Klavierkonzert und den Haydn-Variationen. Und deswegen dauerte es so lange, bis seine Erste Symphonie vollendet war.

Bisweilen wurde Brahms der Vorwurf gemacht, er schreibe gar keine symphonische Musik, sondern bloß groß instrumentierte Kammermusik. Das trifft womöglich etwas Wesentliches. Die Universalität einer monumentalsymphonischen Konzeption war brüchig geworden. In einem Publikum von Hunderten, womöglich Tausenden »die Menschheit« zu erreichen, erwies sich als Fiktion. Es blieb doch immer nur der einzelne, auf den die Musik jeweils individuell wirkte. All der Aufwand, den Brahms mit seinen Tönen betrieb, folgt seinem Bemühen, eben wie in der Kammermusik von Mensch zu Mensch zu sprechen, ehrlich und rückhaltlos – unlösbar verschlüsselt, aber mit jeder Note aufrichtig. Und der Abschied vom Glauben an die weltumarmende Utopie, der war schmerzhaft und brauchte seine Zeit.