Autor*in: Malte Krasting
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Wiener Kaffeehaus, Aquarell von Reinhold Volkel, 1896 | Bild: Österreichische Nationalbibliothek, Austria - Public Domain, via europeana.eu

In der Goldschmiedgasse des Wiener 1. Bezirks stand seit dem frühen 18. Jahrhundert das Café Rebhuhn. Schon 1698 hatte Isaac de Luca, einer der ersten Wiener Kaffeesieder, in diesem Gewölbe sein Gewerbe mit dem schwarzen Getränk betrieben. Als sich gegen Ende der maria-theresianischen Epoche in den 1780er-Jahren das politische Klima immer mehr erhitzte, wurde das Café zu einem der berühmten »Zeitungskaffeehäuser«, in denen aktuelle Blätter zur Lektüre auslagen – die einzige Möglichkeit für das Bürgertum, sich über die gesellschaftlichen Entwicklungen im In- und Ausland zu informieren.

Das Rebhuhn war Treffpunkt aufgeschlossener Kreise, hier unterhielten sich selbst Beamte unverblümt über die Entwicklungen im revolutionären Frankreich und über die Auswirkungen aufs österreichische Vaterland. Auch Wolfgang Amadeus Mozart, der – entgegen immer noch kursierender Klischees – kein schlafwandelnder Götterliebling, sondern ein aufklärerisch denkender Zeitgenosse war, informierte sich in Kaffeehäusern wie diesem über Ereignisse wie die Französische Revolution.

Auch Mozart informierte sich in Kaffeehäusern über weltgeschichtliche Ereignisse.

Diese und andere Umwälzungen wirkten sich auch in Wien aus. Zwar sicherte sich das Habsburgerreich seinen Aufstieg vor allem durch kluge Heiratspolitik, entsprechend seinem dynastischen Leitspruch »Bella gerant alii, tu, felix Austria, nube« (Kriege führen mögen andere, du, glückliches Österreich, heirate) – dennoch standen zweimal die Türken vor den Toren der Stadt und ließen bei ihrem Abzug einiges zurück. Der Kaffee gehört gewissermaßen dazu.

Zwar ist es eine Legende, dass das Türkenheer bei der Flucht 1683 Hunderte von Säcken mit den kostbaren Bohnen aufgeben musste und damit das koffeinhaltige Heißgetränk in der Donaumetropole Einzug hielt, aber tatsächlich waren es Araber und Osmanen, die den Kaffee nach Europa brachten. Und von den beiden türkischen Belagerungen von Wien (1529 und 1683) blieb mindestens die Janitscharenmusik in Österreich präsent – mit ihrem ohrenbetäubenden Tschingderassabum zunächst gefürchtet als unheilverkündende Militärmusik der Osmanen, dann als klingendes Signum für den exotischen Reiz des Orients geliebt und von Mozart in der Entführung aus dem Serail dramatisiert: ein frühes Beispiel multikultureller Weltmusik, einer Cross-over-Fusion von Stilen und Sphären.

Wo sonst als in Wien hätte das so gut gelingen können? Als weit östlich liegende Hauptstadt eines Landes, das gerade noch zu Westeuropa gezählt werden darf (jedenfalls laut offizieller Einordnung der UN), wurde Wien zum Sammelbecken der Nationen, von Böhmen, Ungarn, Deutschen, Juden, Italienern und vielen mehr. »Der Balkan beginnt am Rennweg« soll Fürst Metternich mit Blick auf die berühmte Wiener Ausfallstraße gesagt haben. Diese Zuschreibung ist zwar falsch, doch weniger wahr ist der Satz darum nicht. Wien war nicht zuletzt für die Künste ein anziehender Schmelztiegel.

Mozart kam aus Salzburg, Beethoven aus Bonn, Richard Strauss kam später aus München und Brahms sogar aus Hamburg. Kunstsinnige Monarchen taten das ihrige. Kaiserin Maria Theresia liebte die Musik ebenso wie ihr Sohn Joseph II.; dessen fortschrittliche Gesinnung machte die »Vielvölkerfalt« noch bunter. Seine Toleranzedikte erleichterten Juden und anderen Andersgläubigen das Leben. Ein Freidenker wie der Autor Lorenzo da Ponte, der aus einer jüdischen Familie stammte und wegen diverser Frechheiten und Freveleien häufig verfolgt wurde, konnte nur unter einem solchen Monarchen zum Hoftheaterdichter aufsteigen.

Der »Wiener Walzer« machte sie keinen Unterschied zwischen hohem oder niederem Rang – für jede Obrigkeit ein bedrohlicher Umstand.

Das Café Rebhuhn ging derweil mit der Zeit. Nach der Revolutionswirrnis und den Koalitionskriegen samt Neuordnung durch den Wiener Kongress verlangte die Kundschaft neue Attraktionen. Die Musik gewann an Bedeutung: Sie spielte zum Tanz auf, sie untermalte die Gespräche – und übertönte gewiss manch freimütigeren Gedanken. In den 1820er-Jahren hatte Joseph Lanner mit seiner Kapelle in dem Etablissement – nun unter dem Namen Rebhendlgasthaus – sein Hauptquartier; Johann Strauß der Ältere war, bevor er sich selbstständig machte, als Bratscher mit von der Partie. Hier lauschte Franz Schubert gerne mit seinen Freunden, den Schubertianern, der aktuellen Tanzmusik und beobachtete aus nächster Nähe, wie der gemütliche Ländler sich allmählich zum aufregenden Paartanz wandelte, der bald unter dem Namen »Wiener Walzer« bekannt wurde.

Mit durchaus skandalösen Begleiterscheinungen: Denn die Dynamik der Drehungen war so ekstatisch, dass sie schwer zu kontrollieren war, außerdem machte sie keinen Unterschied zwischen hohem oder niederem Rang und Stand – für jede Obrigkeit ein bedrohlicher Umstand. Da war der Tanz der gesellschaftlichen Entwicklung um Jahrzehnte voraus: »Der Walzer wurde zum Inbegriff der Revolution und das Symbol des bürgerlichen Prinzips der ›égalité‹.« In jener Zeit des Vormärz herrschte zwar Frieden, aber Überwachung und Bespitzelung standen auf der Tagesordnung. Das Biedermeier war weniger harmlos, als die (bei genauerem Hinsehen ohnehin doppelbödigen) Idyllen von Carl Spitzweg glauben machen. Johann Senn, ein guter Freund Schuberts, wurde wegen einer unbedachten Bemerkung im Wirtshaus verhaftet und für fast ein Jahr eingesperrt.

Am Walzer nahmen auch die Kirche und andere Sittenwächter Anstoß, erforderte doch das immer schneller wirbelnde Tempo von den Tanzpaaren engen Körperkontakt, wollte man nicht der Zentrifugalkraft zum Opfer fallen. Lanner ließ sich nicht abhalten, bildete aus der Verkettung mehrerer Walzer zusammenhängende »Folgen« mit Einleitung und Finale, gab ihnen sprechende Titel und unterlegte ihnen ein veritables Handlungsprogramm. Und nachdem sich Vater Strauß von Lanners Kapelle gelöst hatte und eine Generation später seine Söhne Johann, Josef und Eduard dann ebenfalls mit eigenen Orchestern aufspielten, stieg der Wiener Walzer immer weiter auf zur hohen Kunst; einsame Spitze dabei vermutlich Johann Strauß’ Meisterwerk An der schönen blauen Donau von 1867.

Dieser Walzer wurde anlässlich seiner Uraufführung (bei der »Faschings-Liedertafel« des Wiener Männergesang-Vereins) kurzfristig mit einem Text versehen, der mit den Worten begann: »Wiener, seid froh! – Oho, wieso?« Ja, wieso eigentlich? Wegen – wie auch der die Grenze zum Nonsens mühelos überschreitende restliche Text erklärt – des Faschings. Seinen Triumphzug trat der Donauwalzer in der reinen Orchesterfassung an, er wurde zum Inbegriff der wienerischen Ballsaal-Raffinesse und gewann die Hochachtung aller »seriösen« Komponisten. Brahms beispielsweise, selbst begnadeter Tanz- und Walzerkomponist, notierte zu den Anfangstakten des Donauwalzers die längst geflügelten Worte: »Leider nicht von mir«.

Der Gipfelpunkt des Wiener Walzers ist Johann Strauß’ Meisterwerk An der schönen blauen Donau

Auch Kirill Petrenko, Chef der Berliner Philharmoniker und Dirigent des diesjährigen Silvesterkonzerts, ist die Welt der Wiener Kaffeehäuser nicht fremd. Es wird berichtet, er habe sich während seiner Wiener Studienzeit gelegentlich nach Konzertbesuchen in solchen Cafés und Beisln mit kundigen Begleitern über das zuvor Gehörte ausgetauscht. Seine Verehrung für die Operette und die Wiener Tanzmusik ist durch sein eigenes Wirken verbürgt: Sein Dirigierdebüt an der Wiener Volksoper galt Oscar Straus’ Walzertraum, später – in Meiningen, Berlin und München – dirigierte er Die Fledermaus, Die lustige Witwe und Das Land des Lächelns und hegt von jeher höchste Achtung vor den Strauß-Walzern.

Die waren derweil zu einem Topos herangewachsen für eine ganze österreichische, ja europäische Epoche. Mit der Fledermaus allerdings begann – direkt nach dem Gründerkrach von 1873 und dem Bankrott ganzer Gesellschaftskreise – ein Abgesang auf Überschwang und Wachstumsgläubigkeit. Auch der Walzer veränderte sich, schlich einerseits in die Heile-Welt-Unterhaltung (»Mein Liebeslied muss ein Walzer sein«, wie man im Weißen Rössl singt), mutierte andererseits zum Menetekel des aufdämmernden 20. Jahrhunderts: Jean Sibelius, der in Wien studiert hatte, schrieb einen todessüchtigen Valse triste, Gustav Mahler flocht in seine Symphonien Walzeranklänge immer nur als Verwehung oder gar Verzerrung ein.