Die Berliner Barock Solisten gehören zu den bekanntesten Kammermusikformationen aus den Reihen der Berliner Philharmoniker. Ihr Erfolgsrezept: die Verbindung von Alter Musik mit der Spielkultur des Orchesters. Nun feiert das Ensemble seinen 30. Geburtstag. Ein Gespräch mit Geiger, Organisator und Geschäftsführer Raimar Orlovsky.
Herzlichen Glückwunsch zu 30 Jahren Berliner Barock Solisten! Sie gehören zu den Gründungsmitgliedern des Ensembles, die Initialzündung ging aber von Rainer Kussmaul aus, dem damaligen Konzertmeister der Berliner Philharmoniker. Sie beide verband nicht nur die Liebe zur Alten Musik, sondern auch zum Fußball. Und der spielte bei der Gründung eine nicht ganz unerhebliche Rolle.
Wie kam es dazu? Der allererste Anstoß kam eigentlich durch Claudio Abbado: Mitte der 1990er-Jahre führten wir unter seiner Leitung die Brandenburgischen Konzerte mit den Berliner Philharmonikern auf. Im Anschluss daran meinte er, ob wir Orchestermusiker nicht über dieses Projekt hinaus in der Alten Musik aktiv bleiben wollten. Wir ließen die Idee erst mal sacken – bis ich eines Abends bei Rainer Kussmaul zum Fußballschauen eingeladen war. Während des Spiels beschlossen wir, die Barock Solisten zu gründen. Wir hatten von Anfang an eine klare Aufteilung: Rainer übernahm das Künstlerische, ich das Organisatorische und Kaufmännische. Die ersten eineinhalb Jahre gaben wir keine Konzerte, haben nur geprobt, unser Repertoire aufgebaut und ein Spielgefühl für die Alte Musik entwickelt – und uns bewusst entschieden, auf modernen Instrumenten zu spielen.
Was war der Grund? Gerade damals lag es doch im Trend, historische Instrumente bzw. ihre Nachbauten zu verwenden.
Das hatte pragmatische Gründe: Unsere Ensembleproben fanden häufig in den Mittagspausen der Orchesterprobentage statt – ein Instrumentenwechsel war an so einem Tag kaum möglich. Stattdessen passten wir das Setup an und experimentierten mit Barockbögen, tieferer Stimmung und Darmsaiten. Für uns Streicher macht das einen großen Unterschied, weil unsere Instrumente dadurch sehr viel entspannter klingen. Im Gegensatz zum damals verbreiteten puristischen Ansatz wollten wir unseren philharmonischen Klang und unsere technische Präzision bewusst in die Alte Musik mit einbringen – nicht als Widerspruch, sondern als eigene Handschrift.
Als Orchestermusiker hat man mit Barockmusik ja eher selten zu tun. Woher stammt Ihre Affinität zur Alten Musik?
Die war bei mir tatsächlich schon früh da. Als Kind und Jugendlicher habe ich mich intensiv für Barockmusik interessiert. Ich besuchte Kurse bei Nikolaus Harnoncourt, der mir ein ganz anderes Klangerlebnis vermittelte, als ich es beispielsweise im Bundesjugendorchester kennengelernt habe. Auch während meines Studiums beschäftigte ich mich weiterhin mit Alter Musik. Als ich zu den Philharmonikern kam, war ich einer der wenigen, die eine gewisse Alte-Musik-Ausbildung mitbrachten.
Und Rainer Kussmaul?
Als Professor an der Freiburger Musikhochschule hat er sich auch mit der Barockvioline beschäftigt, er gilt ja auch als Vater des Freiburger Barockorchesters.
Wie haben Sie denn die anderen Ensemblemitglieder gefunden?
Rainer und ich waren uns einig, dass wir die führenden Solisten des Orchesters gewinnen mussten – und zudem Tuttimusiker, die bereit waren, sich auf das Experiment mit den Barock Solisten einzulassen. Manch einer hat nach einiger Zeit gemerkt: »Das ist doch nicht so meins.« Wir mussten uns anfangs schon ein bisschen zusammenruckeln, aber 1998/99 stand die Besetzung – und wir sind durchgestartet. Unsere erste Tournee spielten wir mit fast denselben Solisten, mit denen wir jetzt auch das 30-jährige Jubiläum feiern: Reinhold Friedrich, Albrecht Mayer und, quasi in Vertretung für Rainer Kussmaul, Gottfried von der Goltz, dem langjährigen Konzertmeister des Freiburger Barockorchesters. Ein schöner Bogen, der sich da über drei Jahrzehnte spannt.
Sie arbeiten regelmäßig mit Musikerinnen und Musikern aus der Alte-Musik-Szene zusammen. Befruchtet sich diese Zusammenarbeit gegenseitig?
Wir Philharmoniker haben von ihnen gewisse Spielweisen gelernt, die im modernen Orchester nicht üblich sind, etwa barocke Stilistik, Phrasierung und Verzierungskunst. Umgekehrt haben sie von uns Aspekte übernommen, die sie vom Barockorchester her nicht so kannten: eine besondere Klangästhetik oder die Präzision im Ensemblespiel.
Das Ensemble war von Anfang an erfolgreich. Was ist das Geheimnis?
Wir haben eine erfolgversprechende Nische besetzt: Barockmusik auf modernen Instrumenten – aber mit historisch informierter Spielweise. Damals gab es entweder klassische Kammerorchester, die sich irgendwie auch der Barockmusik widmeten, oder die Barockensembles mit Originalinstrumenten. Wir haben die Kombination aus beidem gewagt. Hinzu kommen das hohe Niveau der Berliner Philharmoniker und das fabelhafte Können jedes Einzelnen.
Nach welchen Aspekten stellen Sie Ihre Programme zusammen?
Im Zentrum stehen ja die großen Barock-Meister: Bach, Händel, Telemann, Vivaldi … Das ist tatsächlich eine kleine Kunst für sich – denn natürlich spielen auch die Wünsche der Veranstalter und Labels eine Rolle. Von Anfang an standen die Brandenburgischen Konzerte mit im Fokus, nicht zuletzt wegen des allerersten Projekts mit Claudio Abbado. Aber wir hatten auch immer Lust aufs Entdecken: etwa auf unbekannte Werke von Telemann, der ja erst in jüngerer Zeit eine Renaissance erlebte. Unser Repertoire ist deshalb eine gute Mischung: einerseits bewährte Klassiker, andererseits Raritäten, mit denen wir gern überraschen.
Welche persönlichen Vorlieben haben Sie?
Ich liebe Bachs Brandenburgische Konzerte und Telemanns Tafelmusik. Telemann war als Vielschreiber verschrien. Aber man tut ihm Unrecht damit, denn er hat mindestens genauso viel fantastische Werke geschrieben wie Bach oder Händel. Man sollte sich seinem Werk einfach nur mehr öffnen!
Was waren Ihre Konzert-Highlights der letzten 30 Jahre?
Da gab es unzählige! In den letzten drei Jahrzehnten haben wir weltweit rund 500 Konzerte gegeben – in allen großen Sälen! Natürlich sind die Konzerte in Berlin in der Philharmonie, unserem Wohnzimmer, für uns immer besonders wichtig, eine Herzensangelegenheit. Beeindruckend waren aber auch Konzerte in der Suntory Hall, Carnegie Hall und der Elbphilharmonie; besonders in Erinnerung bleiben werden Aufführungen mit Christine Schäfer, Frank Peter Zimmermann oder die Brandenburgischen Konzerte 2016 erstmals unter der Leitung von Reinhard Goebel – als Rainer Kussmaul schon nicht mehr dabei war.
Als sich Rainer Kussmaul aus dem Ensemble zurückzog, gab es sicherlich eine große Zäsur …
Absolut. Rainer war schwer krank, er hat lange dagegen angekämpft – aber 2015 musste er endgültig aufhören. Für uns war das ein tiefer Einschnitt: Der Spiritus Rector der Barock Solisten zog sich zurück – und wir, seine Eleven, mussten plötzlich auf eigenen Beinen stehen. Rainer hatte diese unglaubliche Präsenz auf der Bühne: Als Konzertmeister war er unser Fels in der Brandung. Mit sicherem Gespür fürs richtige Tempo und einer stoischen Ruhe hat er selbst die anspruchsvollsten Programme souverän getragen.
Mit Reinhard Goebel haben Sie eine weitere prägende Persönlichkeit für das Ensemble gewonnen.
Ja, Reinhard Goebel hat die Ideen der Barock Solisten dann im Sinne Rainer Kussmauls weiterentwickelt, vor allem, was das Repertoire angeht. Er hat zeit seines Lebens in Archiven gestöbert und Kompositionen entdeckt, die vorher kein Mensch kannte. Wir hatten das Glück, viele seiner Ausgrabungen als Weltersteinspielungen veröffentlichen zu dürfen. Das war ein Geschenk – und auch, dass er selbst ein fantastischer Barockgeiger war. Wir Streicher haben von seinem Wissen über historische Aufführungspraxis enorm profitiert.
Was haben Sie als Streicher von Reinhard Goebel gelernt?
Die hundertprozentige Überzeugung, dass bei uns Geigern das Handwerkliche erst mal sitzen muss: Die Abläufe der linken und rechten Hand müssen total aufeinander abgestimmt super gut funktionieren. Und dann: das Tempo. Für Reinhard Goebel ist das Tempo in der Barockmusik nicht beliebig; es folgt vielmehr eindeutig den damaligen Gesetzmäßigkeiten aus Tempobezeichnung und Taktart und sollte von daher stimmig gewählt sein.
Wie kam das Jubiläumsprogramm zustande? Es scheint perfekt zur Geschichte der Barock Solisten zu passen.
Ja, aus mehreren Gründen: Mit dem Zweiten und Dritten Brandenburgischen Konzert schlagen wir den Bogen zurück zu unseren Anfängen. Das Zweite haben wir auf unserer ersten großen Tournee gespielt, mit fast den gleichen Solisten. Und das Dritte? Das ist für uns Streicher das anspruchsvollste Werk unter den Brandenburgischen Konzerten. Da können wir zeigen, was wir handwerklich draufhaben. Ergänzt wird das Programm durch Solokonzerte von Telemann, bei denen jeder der Solistinnen und Solisten nochmals individuell glänzen kann. So schließt sich der Kreis von unseren Anfängen bis heute.
Ein Kreis schließt sich – und doch hat sich das Ensemble weiterentwickelt. In welcher Hinsicht?
Von Beginn an herrschte ein besonderer Ensemblegeist, der von Rainer Kussmaul maßgeblich geprägt wurde. Es zeigte sich eine gewisse Lockerheit während der stets intensiven Arbeit, die Rainer aber auch gerne mit seinem trockenen Humor aufzulockern wusste. Neben der handwerklichen Präzision zeichnen wir uns immer auch durch einen besonderen Spielwitz aus. Und genau das geben wir jetzt an die nächste Generation Barock Solisten weiter. Ich habe Rainer kurz vor seinem Tod versprochen, dass die Barock Solisten ihre Existenzberechtigung behalten werden, auch wenn die Gründungsmitglieder nicht mehr dabei sind.
Haben Sie eine Vision für die Zukunft?
Wir würden gerne weiterhin zu Unrecht vergessene Werke neu entdecken dürfen und zudem in etwas größeren Besetzungen Ausflüge in die Frühklassik und Klassik wagen: Mozarts Violinkonzerte sind geplant, aber auch etwas mit Klavier, beispielsweise ein Jugendwerk Beethovens, und natürlich suchen wir weiterhin die Zusammenarbeit mit großartigen Künstlerinnen und Künstlern. Ich mache mir für die Zukunft keine Sorgen, es gibt eine große Anzahl an spannenden Projekten. Klar ist aber auch: Die Berliner Philharmoniker bleiben das Wichtigste und damit ganz klar die Hauptsache, und die Barock Solisten ordnen sich gerne unter, denn ohne die Philharmoniker gäbe es die Barock Solisten nicht.
Was verdanken Sie persönlich den Berliner Barock Solisten?
Ich verdanke ihnen einen sehr wichtigen Teil meines Lebens. Als Organisator habe ich 30 Jahre lang ein kompliziertes Universum von sehr unterschiedlichen Künstlern betreut und auch in Krisenzeiten zusammengehalten. Aber die Barock Solisten haben nicht nur mein Leben, sondern auch das meiner Familie maßgeblich geprägt. Ich habe sehr viel Zeit damit verbracht, am Schreibtisch zu sitzen, für das Ensemble zu arbeiten und gleichzeitig auf meine Kinder aufzupassen. Nicht selten habe ich Noten mit den Kindern gemeinsam sortiert und oft lagen zwischen den Stimmen dann Bauklötze, Legosteine und Stofftiere, um die Noten den jeweiligen Projekten zuordnen zu können … Meine Kinder haben solche Spielchen geliebt! Die Barock Solisten bleiben daher für mich immer auch ein Familienprojekt.
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Vor 50 Jahren begann mit der Gründung der 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker eine einzigartige Erfolgsgeschichte. Ihren runden Geburtstag feierten sie im Januar 2022 mit einem Konzert, in dem sie ihre schönsten Werke und Arrangements vorstellen. Phil hat mit ehemaligen und aktiven Mitgliedern des Ensembles gesprochen.