Autor*in: Benedikt von Bernstorff
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Herbert von Karajan über einem Mischpult gebeugt.
Herbert von Karajan im Tonstudio | Bild: Max Jacoby

In der Saison 2023/24 feiert die Digital Concert Hall ihren 15. Geburtstag. Ihre Eröffnung setzte einen Meilenstein innerhalb eines kontinuierlichen Prozesses. Der Balanceakt zwischen der Bewahrung der Orchestertradition und der gleichzeitigen Offenheit für neue Kommunikationsmedien gelang. Eine Erfolgsgeschichte.

Schon früh erreichten die Berliner Philharmoniker ihr Publikum auf drei Wegen: als mit der Heimatstadt verbundenes Präsenz-Orchester, als Tournee-Orchester und als Medien-Orchester auf Tonträgern, in Rundfunk und Fernsehen. Wie ein Zeitgenosse berichtet, wurde bereits 1884 »in den Nebenräumen der Philharmonie in Berlin ein Hörkabinett eingerichtet, in welchem das Publikum die in dem Hauptsaal exekutierten Konzertnummern mittels Telefon vernehmen konnte«. Die Zuhörenden hielten sich »die Telefone möglichst nahe an die Ohrmuscheln […], um keinen Ton von dem Orchester zu verlieren«. So skurril diese Szenerie aus heutiger Sicht wirkt: Frappierend ist doch die Parallele zum heute selbstverständlichen Empfang von Konzert-Streams auf Mobiltelefonen. Bis dahin war es natürlich ein langer Weg.

Während unter Chefdirigent Hans von Bülow keine Einspielungen und mit seinem Nachfolger Arthur Nikisch nur eine von Beethovens Fünfter Symphonie entstanden, konnte das Orchester in den Amtszeiten von Wilhelm Furtwängler zwischen 1922 und 1954 von mittlerweile erheblich verbesserter Aufnahmetechnik profitieren. 1924 waren die Berliner Philharmoniker zum ersten Mal in einer Radioübertragung zu hören. Und obwohl Furtwängler den Technologien seiner Zeit eher skeptisch gegenüberstand, sind zahlreiche gemeinsame Aufführungen aufgezeichnet worden. Sämtliche Rundfunkmitschnitte der Jahre 1939 bis 1945 hat das Label Berliner Philharmoniker Recordings auf 22 CDs veröffentlicht.

Medienruhm unter Herbert von Karajan

Furtwänglers Nachfolger Herbert von Karajan, Chefdirigent von 1956 bis 1989, war ein Visionär des Medienzeitalters. Seine zahllosen Schallplatten- und CD-Aufnahmen mit den Philharmonikern galten über Jahrzehnte als maßstabsetzend und verkauften sich millionenfach. Der Dirigent war von technischen Innovationen fasziniert und kalkulierte treffsicher, dass die Reichweite und das Publikum des Orchesters durch Aufnahmen exponentiell wachsen würden.

Bereits in der Karajan-Ära war das Orchester bei ausgewählten Anlässen auch im Fernsehen präsent. Die philharmonischen Sonderformate – die Osterfestspiele in Salzburg und Baden-Baden, Silvester- und Waldbühnenkonzerte sowie das seit 1990 ausgerichtete Europakonzert – waren und sind bedeutsame Medienereignisse.

Das digitale Konzerterlebnis

Bei aller medialen Erfahrung des Orchesters: Die Eröffnung der Digital Concert Hall bedeutete noch einmal einen Quantensprung. Seit Beginn der Saison 2008/09 werden alle Berliner Programme der Philharmoniker aufgezeichnet, und am 6. Januar 2009 erfolgte im Rahmen eines Sonderkonzerts die erste Live-Übertragung. Heute sind die Berliner Philharmoniker nahezu wöchentlich im Live-Stream zu erleben. Anschließend werden die Konzertproduktionen nachbearbeitet und in einem stetig wachsenden On-Demand-Archiv zur Verfügung gestellt. Über 750 Konzerte umfasst es heute. Neben der nahezu lückenlosen Dokumentation der vergangenen 15 Jahre finden sich hier auch historische Produktionen.

Entstanden ist die Streaming-Plattform auch als Reaktion auf die Krise der Tonträgerindustrie, die wesentlich auf dem durch das Internet hervorgerufenen Wandel der medialen und gesellschaftlichen Kommunikation basiert. Mit der Gründung der Firma Berlin Phil Media, zu der neben der Digital Concert Hall auch das Label Berliner Philharmoniker Recordings gehört, hat das von jeher selbstbestimmte Orchester seine mediale Repräsentation in die eigene Hand genommen.

Die Gründung und der nachhaltige Erfolg der Digital Concert Hall sind wesentlich der Initiative des philharmonischen Solocellisten und Medienvorstands Olaf Maninger und des bis 2019 amtierenden Co-Geschäftsführers Robert Zimmermann zu verdanken. Eine nicht selbstverständliche Grundvoraussetzung war die Lust und Bereitschaft des Orchesters und seiner Chefdirigenten, sich auf das Wagnis einzulassen. Finanzielle Starthilfe erhielt das Pionierprojekt von der Deutschen Bank.

Ein Archiv mit eindrucksvoller Tiefe

Zu den Höhepunkten der in der Digital Concert Hall festgehaltenen Konzerte gehören Aufzeichnungen mit wichtigen, inzwischen verstorbenen Partnern der Philharmoniker, darunter die letzten Berliner Auftritte des ehemaligen Chefdirigenten Claudio Abbado sowie der philharmonischen Ehrenmitglieder Nikolaus Harnoncourt, Mariss Jansons und Bernard Haitink. Darüber hinaus dokumentiert das Archiv die zweite Hälfte von Simon Rattles Amtszeit nahezu vollständig – und (fast) die gesamte bisherige Zusammenarbeit der Berliner Philharmoniker mit ihrem aktuellen Chefdirigenten Kirill Petrenko.

Grundsätzlich steht Petrenko sicherlich der Haltung Furtwänglers nahe, der dem unwiederholbaren Konzertereignis mehr Bedeutung beimaß als der Herstellung von »perfekten« Aufnahmen. Aber gerade in dieser Hinsicht erweist sich die Flexibilität des Mediums als ideal. Die Online-Plattform ist nicht auf eine Highlight- und Event-Kultur ausgerichtet. Vielmehr bildet sie ein einzigartiges Kompendium, das die gesamte Tätigkeit eines »Orchesters des 21. Jahrhunderts« (Simon Rattle) begleitet und abbildet. Daher finden sich im Archiv der Digital Concert Hall auch Filme, Porträts und Interviews sowie Produktionen der Education-Abteilung.

Während bei Kirill Petrenkos Amtsantritt lediglich einige wenige Aufnahmen mit ihm verfügbar waren, sind es zu Beginn der Saison 2023/24 bereits 56. Exklusiv für die Digital Concert Hall ist der Chefdirigent zudem in Pausengesprächen zu erleben, in denen er mit Mitgliedern des Orchesters über seine Arbeit spricht. 

Krisen und Chancen

Im Verlauf von 15 Jahren hat sich die auditive und visuelle Qualität der Aufzeichnungen für die Digital Concert Hall kontinuierlich verbessert. Der Standard für die Bildqualität ist mittlerweile das kontrastreich-brillante 4K-HDR-Format. Seit zwei Jahren wird außerdem die Wiedergabe in Immersive Audio (Dolby Atmos) angeboten, durch das beim Hören ein dreidimensionales Raumgefühl entsteht. Eine gegenüber CDs viermal höhere Klangqualität wird im verlustfreien Format Hi-Res-Audio übermittelt.

Institutionen bewähren sich im besten Fall in unvorhergesehenen Krisen. Eine solche war die Corona-Pandemie, die auch und gerade für Kultureinrichtungen eine Katastrophe darstellte. Die Digital Concert Hall ermöglichte den Berliner Philharmonikern in den Zeiten der Lockdowns, den Kontakt zu ihrem Publikum aufrechtzuerhalten.

Das Orchester – zeitweise durch behördliche Auflagen reduziert auf kammermusikalische Besetzungen – realisierte zahlreiche Konzerte in der leeren Philharmonie, die online weltweit verfolgt wurden. Im April 2020 konnte jeder die Digital Concert Hall einen Monat lang kostenlos nutzen – ein Angebot, das zahlreiche neue Klassik-Fans aus allen Teilen der Welt anzog. In künstlerischer Hinsicht war es zudem ein Segen, dass die nur wenige Monate zuvor begonnene Zusammenarbeit mit Chefdirigent Kirill Petrenko dank des Streamings ohne größere Unterbrechung fortgesetzt werden konnte.

Mit der Digital Concert Hall haben die Berliner Philharmoniker eine kühne Vision realisiert, die den entscheidenden Identitätsmerkmalen des Orchesters gerecht wird: Mit der Zeit zu gehen und gleichzeitig dem eigenen Wesenskern treu zu bleiben.

Ein Tonmeister sitzt vor einem Mischpult, im Hintergrund erkennt man Kirill Petrenko auf einem Bildschirm.
Tonstudio | Bild: Stefan Hoederath