Als Vierzehnjähriger hat er sein Erweckungserlebnis: die Aufführungen von Beethovens Neunter und Webers Freischütz unter der Leitung des von ihm hochverehrten Gustav Mahlers beeindrucken ihn so stark, dass er – wie er schreibt – »am folgenden Tag zu komponieren begann […] So sehr, drängte es mich Musiker zu werden, dass ich anfing, ohne Hilfe und Unterricht zu Grundlagen des musikalischen Handwerks zu erlernen.«
Im Banne Mahlers und Schönbergs
Auf Wunsch der Eltern beginnt er zunächst ein Jurastudium, wechselt aber bald zur Musikwissenschaft und wird zudem einer der ersten Schüler von Arnold Schönberg. Beruflich fährt er zweigleisig: Als Wissenschaftler lehrt er am Konservatorium und an der Universität, wird zum Spezialist für Barockoper und entschlüsselt die mittelalterliche, byzantinische Notenschrift. Als Komponist avanciert er mit seinen Werken, insbesondere seinen Bühnenwerken, dem Persischen Ballett sowie den Opern Prinzessin Girnara, Alkestis und Die Bakchantinnen, die auf orientalischen oder griechischen Sujets basieren, zu einem der meistgespielten Tonsetzer der 1920er- und 1930er-Jahre.
1938 annektieren die Nationalsozialisten Österreich. Egon Wellesz, der aus einer jüdischen Familie stammt und daher in Wien mit Berufsverbot rechnen musst, befindet sich gerade auf einer Reise in den Niederlanden. Er kehrt nicht in seine Heimat zurück, sondern emigriert nach England, wo er eine Lehrtätigkeit am Lincoln College in Oxford beginnt.
Neuanfang in England
Der radikale Bruch mit seiner bisherigen Lebenssituation lässt ihn als Komponisten zunächst verstummen. Fünf Jahre vergehen, ehe er wieder anfängt schöpferisch zu arbeiten. Egon Wellesz ist zu diesem Zeitpunkt 60 Jahre. Bis zu seinem Tod 1974 entstehen eine große Anzahl an Kammermusik- und Klavierwerken sowie Lieder und Kirchenmusik und vor allem – neun Symphonien, ein Genre, das er bisher ausgespart hatte: »Es bedeutet einen neuen Abschnitt in meinem Schaffen, die geistige Rückkehr zu meinen großen Ahnen. Aufgewachsen in der österreichischen Musiktradition, war mir die Symphonie immer als das höchste Medium der musikalischen Aussprache erschienen.«