Von: Susanne Stähr

Entstehungszeit: 1987
Uraufführung: 3. April 1987 im Hilbert Circle Theatre in Indianapolis, USA, durch das Indianapolis Symphony Orchestra unter der Leitung von John Nelson und mit der Solistin Paula Robison
Dauer: 11 Minuten

Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 12. Juni 2025, Dirigent: Kazuki Yamada, mit Emmanuel Pahud als Solist

»Ich bin bezaubert vom Geheimnis des Wassers«, schrieb Tōru Takemitsu 1980 in einem Essay und schlug gleich den Bogen zu seiner Musik: »Meine Vorstellung von der musikalischen Form ist die einer flüssigen Form. Worum ich mich bemühe, das ist fortschreitende Transformationen zu schaffen, langsame Wechsel, die kommen und gehen wie die Wellen bei Ebbe und Flut.« Für kaum einen anderen Komponisten spielte die Natur eine so wichtige Rolle wie für den 1930 in Tokio geborenen Takemitsu. Und das Wasser – ob als Regen, Meer, Wellen oder Fluss – nimmt dabei eine herausragende Position ein: Nicht weniger als 25 seiner Werke tragen es im Titel, so auch I Hear the Water Dreaming für Flöte und Orchester, das er 1986/87 schuf.

Hier allerdings kam noch eine weitere Inspiration hinzu: die Kunst der australischen Ureinwohner, der Aborigines. 1980 folgte Takemitsu einer Einladung nach Groote Eylandt, der viertgrößten, vor der Nordküste gelegenen Insel Australiens. Takemitsu war fasziniert von den Tänzen, Gesängen, Geschichten und Zeremonien der indigenen Bevölkerung und komponierte unter diesem Eindruck die Ballettmusik Dreaming für den tschechischen Choreografen Jiří Kylián. Aber er bekam bei seinem Aufenthalt auch bildende Kunst aus Papunya zu sehen, einer Künstlerkolonie im Northern Territory. Ein Gemälde, das den Titel Water Dreaming trug, hatte es Takemitsu besonders angetan: »Es bezieht sich auf die ›Traumzeit‹, einen Mythos, der unter den australischen Aborigines weiterlebt«, erklärte er. »Das Bild ist einfach, aber voller mythologischer Zeichen und Symbole und berührte mich zutiefst in seiner Bildsprache.«

Die Darstellung des Wassers auf dem Gemälde übertrug Takemitsu auf den Part der Soloflöte in I Hear the Water Dreaming. Sie setzt nach wenigen Takten mit einer melodiösen Formel ein, die im Verlauf des Stücks immer wiederkehrt: »Das ganze Werk besteht aus einer Folge melodischer Erscheinungsformen, Variationen und Umspielungen dieses Themas«, erläuterte Takemitsu. Man mag dabei an den Flötenpart aus Claude Debussys symphonischer Dichtung Prélude à l’après-midi d’un faune denken – und das ist sicher kein Zufall. Für Takemitsu, der als Autodidakt sein Handwerk erlernte, war Debussy eines der großen Vorbilder. Ebenso wie Olivier Messiaen, dessen Einfluss in der Harmonik durchscheint. Fast impressionistisch wirkt diese Musik. Es sind fluide, naturhafte Klangzustände, die Takemitsu präsentiert, und obwohl er ein großes Orchester auffährt, setzt er es nie massiv ein. Stattdessen hören wir ein An- und Abschwellen mit dem für die japanische Musik so charakteristischen Pendeln zwischen Stille und Ton. Der Flötenpart scheint traumhaften Erscheinungen nachzusinnen; das Schlagwerk steuert mit Zymbeln, Glockenspiel und Tamtam asiatische Einsprengsel bei, und die Streicher dürfen mitunter sogar regelrecht schwelgen. Eigentlich sei er ein romantischer Komponist, hat Takemitsu in seiner Spätphase behauptet. Und in seinem letzten Text, der wenige Wochen nach seinem Tod im Februar 1996 erschien, äußerte er den Wunsch, am liebsten wie ein Wal durchs Meer zu schwimmen, »ohne West und Ost«.