Von: Martin Demmler

Entstehungszeit: 1916-1917
Uraufführung: 18. Oktober 1923 im Saal der Pariser Opéra, Dirigent: Sergej Kussewitzky, Violine: Marcel Darrieux
Dauer: 23 Minuten

  1. Andantino – Andante assai
  2. Scherzo. Vivacissimo
  3. Moderato – Allegro moderato – Moderato, come prima – Più tranquillo

Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 1. Dezember 1924 unter der Leitung von Bruno Walter und mit dem Solisten Joseph Szigeti

»Das erste Werk Prokofjews, das ich mochte, war das Erste Violinkonzert«, erinnerte sich der legendäre Pianist Swjatoslaw Richter. »Niemand, der Musik liebt, kann sich seinem Zauber entziehen. Die Wirkung ähnelt dem Gefühl, wenn man im Frühling das Fenster öffnet und von den Geräuschen der Straße überwältigt wird.« Als Richter das Werk kennenlernte, sollten noch einige Jahre bis zur Uraufführung vergehen – unter anderem weil Prokofjew nur mit Mühe einen Geiger für den Solopart fand. Als das Konzert schließlich 1923 in Paris der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, blieb der Applaus verhalten – wahrscheinlich weil die Musik weniger avantgardistisch und skandalträchtig war als vom Publikum erwartet. Heute allerdings gehört das Werk zu den wichtigsten und meistgespielten Violinkonzerten des 20. Jahrhunderts.

Prokofjew hatte 1915 auf Anregung des polnischen Geigers Paul Kochanski mit der Komposition begonnen und zunächst ein »kleines Konzert«, ein »Concertino« im Sinn. Doch nach ersten Skizzen wandte er sich wieder seiner Oper Der Spieler zu, und erst 1917 konnte er die Arbeit am Violinkonzert abschließen, das nun sehr viel umfangreicher ausfiel als zunächst geplant. Weite Teil der Partitur komponierte Prokofjew auf dem Landgut, das seine Eltern verwalteten. Von dort aus brachte er sich vor den revolutionären Unruhen – Abdankung des letzten Zaren und Übernahme der Macht durch die Bolschewiken – schließlich im Kaukasus in Sicherheit. Im Dezember 1917 vermerkte er in seinem Tagebuch: »Die Unruhen haben unsere Türen nicht erreicht, der Kaukasus scheint im Allgemeinen immun gegen sie zu sein. Wie klug war meine Idee, mich hier niederzulassen.« Im Jahr darauf verließ Prokofjew seine russische Heimat und ging in die Vereinigten Staaten.

Prokofjew selbst bezeichnete sein Erstes Violinkonzert als »lyrisch«, und in der Tat finden sich hier nur wenige Berührungspunkte mit seinen wilden, harmonisch und rhythmisch zerklüfteten Frühwerken wie etwa der Skythischen Suite von 1915. Der Charakter ist eher romantisch, mitunter sogar verträumt. Allerdings stellt Prokofjew die klassische Konzertform gewissermaßen auf den Kopf. Denn im Zentrum des Werks steht kein langsamer Satz, sondern ein quirliges, flirrendes Scherzo von gerade einmal vier Minuten Dauer, während die Außensätze in ruhigerem Tempo gehalten sind. Das Fehlen von Posaunen und das Hinzuziehen einer bei Prokofjew eher seltenen Harfe sorgen für einen lichten, hellen Klang.

Der erste Satz beginnt mit einer ätherischen Kantilene über einer leisen Tremolo- und Trillerfläche – in der Partitur notiert der Komponist »verträumt« und »sehr leise«. Klangliches Raffinement zeigt auch die Durchführung, in der Prokofjew ausgiebig mit unterschiedlichsten Artikulationsformen der Geige operiert (alla chitarra, pizzicato, staccato). Der Kreis schließt sich, wenn das Finale mit denselben aufgelichteten Klängen endet wie der erste Satz.