Entstehungszeit: 1911-1915
Uraufführung: 28. Oktober 1915 in der alten Berliner Philharmonie durch die Dresdner Hofkapelle unter der Leitung des Komponisten
Dauer: 50 Minuten
Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 4. Dezember 1916; Dirigent: Arthur Nikisch
Mit der Symphonia domestica hatte sich Richard Strauss 1903 scheinbar von der Gattung der Tondichtung verabschiedet. Spätestens mit dem 1911 uraufgeführten Rosenkavalier etablierte er sich als erfolgreichster deutschsprachiger Opernkomponist seiner Zeit; und er ließ selbst keinen Zweifel daran erkennen, dass von nun an das Musiktheater im Zentrum seines Schaffens stehen sollte. Die 1915 veröffentlichte Alpensinfonie ist dennoch nicht Ausdruck eines Sinneswandels, vielmehr war ihrer Vollendung ein ungewöhnlich komplizierter und ausgedehnter Entstehungsprozess vorausgegangen.
Die Werkgeschichte begann um die Jahrhundertwende mit der Konzeption einer symphonischen Künstlertragödie. Strauss, ein passionierter Bergsteiger, ließ sich zu ihr von der Lebensgeschichte des Malers Karl Stauffer anregen. Stauffer, ebenfalls ein Naturliebhaber, hatte gegen den Willen seiner Familie eine Laufbahn als erfolgreicher Porträtmaler eingeschlagen. Die Liebesbeziehung mit der Ehefrau eines Mäzens löste einen Skandal aus, woraufhin sich der Künstler das Leben nahm. Daraus entwickelte Strauss den Plan zu einem Werk mit dem Namen Der Antichrist, eine Alpensinfonie. Es sollte vier Sätze umfassen, von denen der erste die Stationen einer Bergtour wiedergibt. Der Titel Der Antichrist bezieht sich auf Friedrich Nietzsches gleichnamige Schrift, von deren Gedankengut Strauss angezogen war. Der Komponist vollendete aber letztendlich nur den ersten Teil mit der Schilderung eines Tages in den Bergen und zog den Verweis auf Nietzsche zurück. Wie die Überschriften der Abschnitte angeben, beginnt die Wanderung am Ende der Nacht, dann geht die Sonne auf, und die Bergbesteigung führt durch Wälder und über Almen bis zum Gipfel. Es folgt der von einem Unwetter begleitete Abstieg bis zum Wiedereintritt der Nacht.
In der Alpensinfonie hat Strauss das Potential des Symphonieorchesters, von kammermusikalischer Feinzeichnung bis zu monumentaler klanglicher Wucht, auf einzigartige Wiese ausgeschöpft. Neben direkten Zitaten aus der Umwelt – das Läuten der Kuhglocken, das mit Hilfe von Donnerblech und Windmaschine evozierte Unwetter – stehen raffiniert instrumentierte Vogelruf-Imitationen, die glitzernden Tropfen des Wasserfalls, die das Werk eröffnende und abschließende, brütende Nachtstimmung und das erhabene Gipfelthema. Kunstvoll verbinden sich die Naturschilderungen mit den Empfindungen, die sie im Beobachtenden auslösen. Ein Thema im punktierten Rhythmus, das sich als ein Leitmotiv der Tondichtung erweisen wird, signalisiert die Entschlossenheit beim Aufbruch. Der Wanderer wird aus melancholischen Gedanken während des Abstiegs durch die Ankündigung des Gewitters aufgescheucht. Und wenn schließlich im Abschnitt Ausklang zuvor gehörte Themen zurückkehren, assoziiert man unvermeidlich einen Menschen, der die empfangenen Eindrücke Revue passieren lässt.
Der Zusammenhang des vollendeten Werkes mit Nietzsche und Stauffer ist bis heute umstritten. Immerhin: Beide liebten die Alpen, der Philosoph hielt Einsamkeit und Höhenluft für die idealen Voraussetzungen des Denkens. Nietzsche wie Stauffer waren aus der Sicht des Komponisten an der Enge der bürgerlichen Gesellschaft zugrunde gegangen. Strauss teilte Nietzsches Kritik am Christentum: Durch die Verpflichtung zu Demut und Schuldgefühlen hindere es das Individuum an der Entfaltung seiner Schaffenskraft. In der Abkehr von Gesellschaft und Religion – so könnte das geheime Programm der Tondichtung lauten – empfängt der Künstler aus der unmittelbaren Begegnung mit der Natur die Inspiration für sein Werk. Von der inneren Verwandtschaft von Natur und Musik war auch Claude Debussy überzeugt. Dessen Orchesterstudie La Mer bildet sozusagen das maritime Gegenstück zu Strauss’ fast zeitgleich entstandener symphonischer Bergbesteigung. Der Musiker habe das »Vorrecht«, so Debussy, »die ganze Poesie der Nacht und des Tages … zu fassen, ihre Atmosphäre wiederzugeben und ihren gewaltigen Pulsschlag in Rhythmen auszuströmen.«