Von: Anna Vogt

Entstehungszeit: 1895-1896
Uraufführung: 27. November 1896 in Frankfurt am Main unter der Leitung des Komponisten
Dauer: 34 Minuten

  1. [Ohne Überschrift] –
  2. Von den Hinterweltlern –
  3. Von der großen Sehnsucht –
  4. Von den Freuden und Leidenschaften
  5. Das Grablied –
  6. Von der Wissenschaft –
  7. Der Genesende –
  8. Das Tanzlied –
  9. Das Nachtwandlerlied

Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 30. November 1896, Dirigent: Arthur Nikisch

»Neue Tondichtung überdacht: Schauen-Anbeten / Erleben-Zweifeln«: So fasste Richard Strauss 1894 seine ersten Ideen zu einer geplanten fünften Tondichtung zusammen, die – inspiriert von Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra – entstehen sollte. Dessen hymnisches Vers-Epos aus den Jahren 1883 bis 1885 kreist um einen fiktiven Denker, einen »Übermenschen«, der seinen Namen dem persischen Religionsstifter Zarathustra verdankt und für Nietzsche ein Inbegriff des dionysischen, rauschhaften Seins ist. Im Sommerurlaub 1895 in Italien skizzierte Strauss erste Einfälle zu seiner Komposition und schrieb mit schelmischer Freude an den Dichter Karl Henckell: »Jetzt nagle ich eine Orchesterdichtung Also sprach Zarathustra zusammen; wenn sie gelingt, so kenn’ ich viele, die sich darüber ärgern werden – dass sie’s so gar nicht verstehen!« Ein Jahr später war das Werk vollendet. Wie Strauss geahnt hatte, schlug seine Tondichtung hohe Wellen in Zeiten des erbitterten Streits zwischen den »Konservativen« und den sogenannten »Neudeutschen« mit ihren Experimenten im Bereich der programmatischen Musik. Und so erhitzten sich an der Uraufführung 1896 in Frankfurt die Gemüter – das Werk erntete sowohl begeistertes Lob als auch bissige Kritik.

Die Tondichtung besteht aus einer Einleitung und acht Abschnitten, deren Titel Nietzsches Kapitelüberschriften, wenn auch in veränderter Reihenfolge, entsprechen. Die inhaltlichen Bezüge zur poetischen Vorlage sind darüber hinaus eher vage und rätselhaft. Nicht ohne Grund machte Strauss deutlich, dass es sich um eine Komposition »frei nach Nietzsche« handle. Sie wird eröffnet mit dem berühmtesten Sonnenaufgang der Kompositionsgeschichte, der Zarathustra auf seinem Weg zu den Menschen begleitet – hinab von einem Berg, auf dem der Prophet als Einsiedler lebte. Nach einem gewaltigen Crescendo findet der überwältigende Eindruck des Sonnenaufgangs seine klangliche Entsprechung in einem hymnischen »Natur-Motiv« der Bläser in C-Dur, das unvermittelt nach Moll abgedunkelt wird. Schon hier kommt der riesige Orchesterapparat effektvoll zum Einsatz, den Strauss unter anderem mit sechs Hörnern, vier Trompeten und zwei Tuben sowie einer Orgel, zwei Harfen und einer großen Anzahl an Schlaginstrumenten bestückte.

In »Von den Hinterweltlern« trifft Zarathustra auf ein streng gläubiges Volk, dessen ruhige Seelenlage in einem »mit Andacht« überschriebenen, liedhaften Thema der Streicher in Klang gesetzt ist, während Hörner und Orgel – nicht ohne Ironie – das Glaubensbekenntnis Credoin unum Deum anstimmen. Diese scheinbare Idylle wird bald schon gestört: Ein Sehnsuchtsmotiv ist im dritten Abschnitt zu hören, das mit dem Streicherthema der »Hinterweltler« in Konkurrenz tritt und sich in dem folgenden Teil »Von den Freuden und Leidenschaften« entlädt – nun entfesselter und im aufgewühlten c-Moll. Düstere Posaunen-Einwürfe kündigen einen atmosphärischen Wandel an und leiten über zu einem »Grablied«, in dem die Solovioline und die Holzblasinstrumente klagende Kantilenen anstimmen. Als Erinnerung an schönere Zeiten erklingen Motive aus den vorherigen Abschnitten. In der Episode »Von der Wissenschaft« führt Strauss ein dunkles, breites Fugenthema ein, das etwas behäbig daherkommt: ein ironischer Verweis auf das Philisterhafte des Wissenschaftsbetriebs.

Im Abschnitt »Der Genesende« findet die Entwicklung des ersten Teils mit dem Zusammenbruch Zarathustras zu einem vorläufigen Ende, bevor sich die Kräfte musikalisch neu bilden und schon bald in einen volkstümlichen Walzer übergehen. Der ausgelassene Tanz mündet in das »Nachtwandlerlied«, das von zwölf Glockenschlägen zur Mitternacht eingeleitet wird. Doch die Musik findet keine wirkliche Ruhe. Bis zum Schluss stehen die Tonarten H-Dur und C-Dur, die das ganze Werk prägen, als irritierend unversöhnlicher Gegensatz nebeneinander: wie ein Stachel des Zweifels in einer Welt der Klarheit.