Von: Kerstin Schüssler-Bach

Entstehungszeit: 1972-1975
Uraufführung: 2. April 1975 in der Londoner Royal Festival Hall durch das BBC Symphony Orchestra unter der Leitung des Komponisten
Dauer: 27 Minuten

  1. Très lent

Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 15.12.1978 unter der Leitung von Lorin Maazel

Eine »Zeremonie des Gedenkens« sei seine Orchesterkomposition Rituel in memoriam Bruno Maderna, so Pierre Boulez, »eine Zeremonie des Absterbens, ein Ritual des Vergehens und des Fortbestehens«. Das Zeremonielle ist den feierlichen Klängen des Werks eingeschrieben – seinen bronzenen Akkorden, seiner langsam schreitenden Bewegung. Es ist dem Andenken Bruno Madernas gewidmet, Boulez’ energiegeladenem und charismatischem Mitstreiter bei der Neuordnung des Nachkriegsmusiklebens. Der italienische Komponist und Dirigent ist 1973 mit nur 53 Jahren gestorben. Mit Boulez hatte er ab 1962 gemeinsam das Kranichsteiner Kammerensemble geleitet, das erste Spezialensemble für Neue Musik, hervorgegangen aus dem legendären Avantgardemekka der Darmstädter Ferienkurse. Das Ringen um die gesellschaftliche Neupositionierung der Kunst, die räumliche Öffnung der Musik und das Aufbrechen verkrusteter Konzertstrukturen verband die Darmstädter Protagonisten, neben Maderna und Boulez auch Karlheinz Stockhausen und Luigi Nono. Der Schock über Madernas plötzlichen Tod saß tief. Boulez, obwohl kein Freund von Emotionsausbrüchen, brachte sein klingendes Grabmal im April 1975 mit dem BBC Symphony Orchestra zur Uraufführung, einem Klangkörper, dem auch Maderna als Dirigent eng verbunden gewesen war. Aber das Rituel ist ein doppeltes Memorial, denn in ihm ist Material aus Boulez’ Komposition ... explosante-fixe ... eingewoben. Diese war wiederum eine Huldigung an den 1971 verstorbenen Igor Strawinsky, dessen Sacre du printemps Boulez 1969 mit dem Cleveland Orchestra aufgenommen hatte.

Bruno Maderna hatte sich stets für den Raumklang interessiert, und so experimentierte auch Boulez in seinem Gedenkwerk mit der Verräumlichung der Orchesteranordnung. Acht ganz verschieden besetzte Instrumentalgruppen individueller Größe – von einer Oboe bis zu 14 Blechbläsern – sind weit entfernt voneinander im Zuschauerraum und auf der Bühne aufgestellt, was das Hören zu einem besonderen Erlebnis macht. Jede Instrumentalgruppe wird dabei von einem Schlagzeuger begleitet und rhythmisch eingefasst. Zwei weitere Schlagzeuger liefern außerdem mit Buckelgong- und Tamtam-Klängen ein eindrucksvolles, ehernes Sediment. Die außereuropäischen Schlaginstrumente wie indische Tablas, japanische Holzblöcke oder türkisches Becken tragen zum Eindruck einer fremdartigen zeremoniellen Prozession bei.

Nicht nur der Raumklang, auch die Zeitschichtung wird in Rituel in memoriam Bruno Maderna ungewöhnlich organisiert: In 15 Abschnitten unterschiedlicher Länge wechseln sich zwei Grundformen miteinander ab. Die ungeradzahligen, »sehr langsam« zu spielenden Abschnitte (1, 3, 5 usw.) in blockhafter Statuarik werden vom Dirigenten geleitet. Die geradzahligen (2, 4, 6 usw.), lebhafter zu spielenden Abschnitte, die nicht dirigiert werden, wirken dazu als Gegensatz. Denn jede Gruppe ist hier nur mit sich selbst synchronisiert, unabhängig von den anderen, was den Eindruck einer spielerischen Improvisation erzeugt. Der Dirigent gibt bei den geradzahligen Abschnitten nur den Einsatz nach einer frei gewählten Reihenfolge, wobei die Materialien für jede Instrumentengruppe eine unterschiedliche Dauer aufweisen. Somit gleicht keine Aufführung des Werks der anderen.