Von: Martin Demmler

Entstehungszeit: 1931-1937
Uraufführung: von drei Sätzen am 7. März 1937 in Milwaukee, USA, durch die Milwaukee Symphonic Band, Dirigent: Percy Grainger
Dauer: 15 Minuten

  1. Lisbon
  2. Horkstow Grange
  3. Rufford Park Poachers
  4. The Brisk Young Sailor
  5. Lord Melbourne
  6. The Lost Lady Found

Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 16. Oktober 2025 unter der Leitung von Sir Simon Rattle

Percy Grainger, 1882 im australischen Melbourne geboren, kam 1895 nach Europa, wo er in Frankfurt am Main studierte. Anschließend ließ er sich in Großbritannien nieder und tourte als Pianist durch die wohlhabenden Salons Londons. Etwa zeitgleich mit Zoltán Kodály und Béla Bartók in Ungarn begann er sich für die volksmusikalischen Traditionen seiner englischen Wahlheimat zu interessieren. So machte er sich 1905/06 auf die Suche nach Menschen, die mit diesem Liedgut noch vertraut waren. Er bereiste verschiedene Regionen, zunächst mit Stift und Notenheft, später mit einem Phonographen. Diese Kollektion wurde zu einer Schatzkammer seiner musikalischen Ideen und bildete auch die Grundlage für eines seiner populärsten Werke: Lincolnshire Posy.

Grainger hielt genau fest, von wem und unter welchen Umständen er diese Lieder gehört hatte. So berichtete er über den ersten Satz von Lincolnshire Posy, den er von einem Mr. Deane gehört hatte: »Ich traf ihn in der Krankenstation des Arbeitshauses, mit einer großen klaffenden Wunde am Kopf – er war die Treppe hinuntergefallen. Er war sehr stolz auf seine Wunde und bestand darauf, er sei zu schwach, um zu singen. ›Alles klar, Mr. Deane‹, sagte ich zu ihm. ›Sie müssen nicht selbst singen, aber ich würde Ihnen gern ein paar Aufnahmen von anderen Sängern vorspielen.‹ Er hatte noch nicht die erste Hälfte des Liedes gehört, als er spontan sagte:›Ich singe für Sie, junger Mann.‹ Wir stellten den Phonographen auf, und zwischen der zweiten und dritten Strophe sprach er in die Aufnahme: ›Das gefällt mir sehr.‹ Was zeigt, wie sehr das Singen zum Leben jedes Volksmusiksängers gehört.«

1914 emigrierte Grainger in die USA. Als er 1937 den Auftrag erhielt, ein Werk für die bevorstehende American Bandmasters Convention zu komponieren, griff er auf sechs dieser Lieder zurück. Dabei bemühte er sich, die genaue Diktion der Originalaufnahmen beizubehalten: »Jeder Satz ist als musikalisches Porträt des Sängers gedacht, der die zugrunde liegende Melodie sang: ein Porträt seiner Persönlichkeit und nicht zuletzt seiner gesanglichen Gewohnheiten, seiner regelmäßigen oder unregelmäßigen rhythmischen Gepflogenheiten, seiner Vorlieben für schlichtes oder kunstvoll-arabeskes Singen, seiner Gegensätze von legato und staccato, seiner Neigung zu breiter oder delikater Artikulation.«

Die Melodien in Lincolnshire Posy klingen – abgesehen vom letzten Lied – weniger volkstümlich, als man annehmen könnte, und werden von Grainger harmonisch äußerst üppig aufbereitet. Für ihn waren die alten Volkssänger die »Könige und Königinnen des Gesangs«: »Kein Konzertsänger, den ich jemals hörte, erreichte diese Variationsbreite der Tonqualität, den Umfang der Dynamik, die rhythmischen Finessen oder die Individualität des Stils.«