Von: Anna Vogt

Entstehungszeit: 1913
Uraufführung: Die zweite Orchestersuite erklang erstmals am 29. März 1914 in den Pariser Concerts Lamoureux, Dirigent: Camille Chevillard
Dauer: 17 Minuten

  1. Lever du jour
  2. Pantomime
  3. Danse générale

Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 20. Dezember 1920, Dirigent: Oskar Fried

Liebe stößt auf Hindernisse: Diese einfache Formel ist bis heute das Grundprinzip fast jeder Netflix-Serie – und war schon in der Antike der Treibstoff für Erzählungen. So auch in der Geschichte des griechischen Dichters Longos um den Ziegenhirten Daphnis und die Schafshirtin Chloé, angesiedelt auf der griechischen Insel Lesbos. In dieser Mischung aus Liebes-, Entwicklungs- und Abenteuerroman entdecken zwei Findelkinder ihre erst zarte, später leidenschaftliche Liebe füreinander, trotzen mehreren Entführungen und anderen Gefahren, finden ihre eigentliche Herkunft heraus – und feiern schließlich Hochzeit: Happy End.

Der russische Impresario Sergej Diaghilew hatte ein gutes Gespür für effektvolle Tanzstoffe, die er für seine Ballets Russes von Künstlern wie Strawinsky, de Falla, Debussy und Satie in Musik setzen ließ und damit Anfang des 20. Jahrhunderts kreative Schockwellen in die Ballettszene Europas sendete. 1909 bat er Maurice Ravel um eine Vertonung des Stoffs von Daphnis et Chloé. Die Uraufführung des Balletts 1912 in Paris war allerdings nur ein mäßiger Erfolg, doch in Form von zwei Orchestersuiten fand die Ballettmusik eine neue Bestimmung, vor allem die Zweite Suite avancierte bald zu einem Publikumsliebling.

Diese Suite mit ihren drei verbundenen Sätzen bezieht sich auf den Schlussteil des Balletts, das Tableau Nr. 3. Nach etlichen Irrungen und Wirrungen beginnt im Reich der Liebenden ein neuer Tag mit einem musikalischen »Sonnenaufgang« (Lever du jour): einem schimmernd bewegten Naturspektakel mit musikalischem Vogelzwitschern und Wasserfallrauschen, in dem sich immer neue Klangprismen entfalten. Ravel arbeitet hier vor allem mit den charakteristischen Farb- und Lichtwerten der Holzblasinstrumente und verleiht den Flöten, auch als klingenden Chiffren für das Hirtenleben, von Anfang an eine exponierte Rolle. Zugleich sorgen spezielle Spielarten der Streicher wie Glissandi auf Flageolett-Tönen immer wieder für ungewohnt mysteriöse, damals sehr moderne Effekte – und für den Eindruck einer quasi synästhetischen Kunst, in der Musik, (imaginierter) Tanz und visuelle Elemente zu einer Einheit verschmelzen.

In der folgenden »Pantomime« führen Daphnis und Chloé zu Ehren von Gott Pan, der Chloé bei einem Piratenangriff gerettet hatte, ein kleines Tanzschauspiel auf: die mythologische Liebesgeschichte zwischen Pan und der Nymphe Syrinx. Die Nymphe kann sich Pans Annäherungen nur entziehen, indem sie sich in Schilf verwandelt. In seiner Sehnsucht formt Pan eine Flöte daraus, deren Arabesken auch Ravels Musik durchziehen: als klingende Sphäre der Liebe, aber auch der Bedrohung. Der abschließende »Danse générale« kreist im 5/4-Takt in immer neuen Runden: eine ausgelassene Feier des Lebens, mit archaisch-rituellen Elementen. Vor allem hier erkennt man eine Seelenverwandtschaft zur Musik Strawinskys, dem Ravel in seiner Begeisterung für die Ausdruckswelten des Tanzes in nichts nachstand. Strawinsky rühmte im Übrigen Daphnis et Chloé als »mit Sicherheit nicht nur eines der besten Werke Ravels, sondern auch eines der schönsten Erzeugnisse der französischen Musik.«