Entstehungszeit: 1985
Uraufführung: 21. März 1985 in San Francisco durch das San
Francisco Symphony Orchestra, Dirigent: Edo de Waart
Dauer: 40 Minuten
Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 15. September 2016 unter Leitung des Komponisten
Der 1947 im amerikanischen Worcester geborene John Adams unterscheidet sich in mancher Hinsicht von seinen komponierenden Zeitgenossen. »Auf einer rein technischen Ebene scheint meine Musik nicht so kompliziert zu sein wie die vieler anderer zeitgenössischer Komponisten«, meint er selbst. »Meine musikalischen Ideen haben niemals die komplexen Formen benötigt, die wir heute normalerweise von seriösen Komponisten erwarten.« Während seine Musik auf einen großen Bauplan verzichtet, kennt sie rhythmischen Drive und traditionelle Harmonien, die auf ungewöhnliche Weise miteinander verbunden werden. Zudem hat Adams im Unterschied zu vielen seiner Kollegen großen Erfolg mit seinen Werken und gehört zu den meistgespielten Komponisten der Gegenwart.
John Adams wird gewöhnlich den Minimalisten zugerechnet, denn seine Arbeiten zeigen keine großen Kontraste, sondern zeichnen sich durch einen gleichmäßigen Fluss, den Einsatz rhythmischer »patterns« (Muster) und ausgedehnte melodische Bögen aus. Das gilt auch für sein Orchesterstück Harmonielehre, das 1984/85 entstand und die Überwindung einer mehrjährigen schöpferischen Krise markierte. Adams suchte nach einem Ausweg aus einer Sackgasse, in die ihn die minimalistischen Strukturen geführt hatten. Er fand sie in einer Verbindung der Entwicklungstechniken der Minimal Music mit der Orchestermusik des späten 19. Und 20. Jahrhunderts. »Die Schatten von Mahler, Sibelius, Debussy und dem frühen Schönberg finden sich überall in diesem seltsamen Stück. Dies ist ein Werk, das in postmoderner Weise auf die Vergangenheit schaut«, so Adams. Aus dieser Haltung erklärt sich auch der Titel, der auf Arnold Schönbergs Harmonielehre von 1911 anspielt.
Seine Entstehung verdankt das Werk einem Traumbild: Adams sah in der Bucht von San Francisco einen großen Tanker fahren, der sich plötzlich wie eine Rakete mit enormer Schubkraft in den Himmel erhob. Der gesamte erste Satz zeigt eine Art umgekehrte Bogenform: hochenergetisch zu Beginn und am Ende, mit einem langen schwelgerischen Mittelteil, von dem Adams selbst sagt, er sei »full of Sehnsucht«. Der zweite Satz trägt den Titel »The Anfortas Wound« (Die Wunde des Amfortas) und ist in langsamem Tempo gehalten. Zwar gibt es Anklänge an Richard Wagners Parsifal, dennoch betont Adams, er beziehe sich in erster Linie auf die originale französische Legende über den Gral aus dem späten 12. Jahrhundert. Der lebhafte dritte Satz »Meister Eckhardt and Quackie« beginnt mit flirrenden rhythmischen Mustern, aus denen sich eine raumgreifende Melodie der Streicher herausschält. Auch hier geht der Titel auf einen Traum Adams’ zurück. Dort reitet seine damals gerade geborene Tochter Emily, die von den Eltern zärtlich Quackie genannt wurde, auf den Schultern des mittelalterlichen Mystikers Meister Eckhart und flüstert ihm das Geheimnis der Gnade ins Ohr.
In Harmonielehre gelingt Adams ein Spagat zwischen der Expressivität der Spätromantik und den Techniken der Minimal Music. Dass er es versteht, diese beiden so unterschiedlichen ästhetischen Ansätze zu einem eigenständigen klanglichen Kosmos zu amalgamieren – das macht den Reiz und sicher auch den spektakulären Erfolg dieser Musik aus.