Von: Malte Krasting

Entstehungszeit: 1862-1877
Uraufführung: 4. November 1876 in Karlsruhe mit dem Großherzoglich-Badischen Hoforchester unter der Leitung von Otto Desoff
Dauer: 47 Minuten

  1. Un poco sostenuto – Meno Allegro
  2. Andante sostenuto
  3. Un poco Allegretto e grazioso
  4. Adagio – Più Andante – Allegro non troppo, ma con brio – Più Allegro

Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 27. November 1885 unter der Leitung von Karl Klindworth

Es war eine gewaltige Hypothek, die Robert Schumann seinem jungen Kollegen Johannes Brahms mit auf den Weg gab. In einem seiner letzten Essays verkündete Schumann 1853, es sei nun endlich einer erschienen, »der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise auszusprechen berufen« wäre. Schon seine Klaviersonaten seien »mehr verschleierte Symphonien«, doch »wenn er seinen Zauberstab dahin senken wird, wo ihm die Mächte der Massen, im Chor und Orchester, ihre Kräfte leihen, so stehen uns noch wunderbarere Blicke in die Geheimnisse der Geisterwelt bevor.« Es ist nicht verwunderlich, dass Brahms fast ein Vierteljahrhundert brauchte, um 1876 endlich mit einer ausgewachsenen Symphonie an die Öffentlichkeit zu treten. Zu groß waren seine Zweifel, es in dieser Königsgattung der Instrumentalmusik mit seinen Vorgängern, insbesondere Beethoven, aufnehmen zu können.Noch Anfang der 1870er-Jahre, als er bereits den ersten Satz seiner Symphonie komponiert hatte, meinte er zu dem befreundeten Dirigenten Hermann Levi: »Ich werde nie eine Symphonie komponieren! Du hast keinen Begriff davon, wie es unsereinem zu Mute ist, wenn er immer so einen Riesen Beethoven hinter sich marschieren hört.« Doch schließlich wagte er den Vergleich: Dabei verzichtete er auf Gesang wie in Beethovens Neunter, verneigte sich aber vor deren weltumspannendem Chorthema mit einem ganz ähnlichen instrumentalen Hymnus als Hauptthema des Finales. Auf deren merkwürdige Ähnlichkeit angesprochen, antwortete Brahms gereizt: »Jawohl, und noch merkwürdiger, dass das jeder Esel gleich hört.«  

Neben dieser kompositorischen Selbstüberwindung steht die Symphonie für Brahms’ Bemühen, mit dem vielleicht wichtigsten Kapitel seines persönlichen Lebens künstlerisch abzuschließen – seiner Liebe zu Clara Schumann. Seit ihrem Kennenlernen, während der Krankheit ihres Mannes und nach seinem Tod war das Verhältnis der beiden inniger geworden, und von Brahms’ Empfindungen gibt es mehr als genug Zeugnisse. Dennoch entschlossen sie sich, ihre Verbindung nicht über Freundschaft hinausgehen zu lassen. Dieser schmerzliche Prozess ist in die Erste Symphonie eingeflossen. Eine Vorform des Alphornthemas, auf das die Einleitung des Finales hinzielt, schickte Brahms 1868 aus den Berner Alpen an Clara, mit dem Text: »Hoch auf’m Berg, tief im Thal, / grüß ich dich viel tausendmal« – ein Amalgam aus der Zeile eines Schweizer Volksliedes, in dem der Sänger von seiner fernen Geliebten spricht, und aus Eichendorffs von unerfüllter Liebe handelndem Gedicht Der Gärtner. Die traumverlorene Oboenmelodie aus der langsamen Einleitung des Kopfsatzes wiederum zitiert den Trauermarsch aus Beethovens »Eroica« – und damit zugleich Schumanns letztes Lied aus dem Zyklus Dichterliebe nach Gedichten von Heine, wo fast dieselbe Tonfolge im Bass erklingt; im Text heißt es später: »Ich senkt’ auch meine Liebe und meinen Schmerz hinein« – in einen übergroßen Sarg, der am tiefen Meeresgrund seine Ruhe finden soll.

Im Zitatgeflecht der Symphonie spielt auch Schumanns Musik zu Byrons Manfred eine besondere Rolle. In diesem Drama geht es um die unerlaubte Liebe zwischen Manfred und Astarte, zwei Menschen, die sich eher als Geschwister denn als Geliebte nahestehen sollten; nach Astartes Tod geht Manfred an seinen Schuldgefühlen zugrunde. Brahms zitiert das Astarte-Thema im zweiten Thema des ersten Satzes; dieses Stück schickte er 1862 an Clara, die sofort die Verwandtschaft mit der Manfred-Ouvertüre erkannte. Auch im über zehn Jahre später entstandenen Finale bezog er sich mit dem zweiten Thema erneut auf das Motiv, das zugleich den Kern des Schlussteils bildet – nicht etwas der eingängige Hymnus des Satzanfangs, wie man es erwarten könnte. »In meinen Tönen spreche ich«, schrieb Brahms an Clara, als er ihr das Alphornthema übersandte. Es bleibt offen, was genau sie sagen, aber die Fülle der Bezüge lässt an der Botschaft kaum Zweifel.