Entstehungszeit: 1733-1748/49
Uraufführung: Zu Bachs Lebzeiten ist keine Aufführung der vollständigen Messe nachgewiesen.
Dauer: 127 Minuten
Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 21. März 1885 mit der Berliner Sing-Akademie unter der Leitung von Martin Blumner
»Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort und steur’ des Papsts und Türken Mord, die Jesum Christum, deinen Sohn, stürzen wollen von seinem Thron.« Wie kam es wohl dazu, dass Johann Sebastian Bach, ein überzeugter Lutheraner, der in seiner Kantate »Erhalt uns, Herr« BWV 126 diesen drastisch antikatholischen Text vertont hatte, später eine vollständige lateinische Messe schrieb? Lateinisch wurde zwar auch im protestantischen Gottesdienst seiner Zeit noch gesungen, allerdings vor allem in Kurzmessen aus Kyrie und Gloria oder in selbstständigen Sanctus-Sätzen. Dagegen hatte bereits Martin Luther die Sätze Benedictus, Agnus Dei und Dona nobis pacem – also die Teile, die den Opfergedanken der römischen Abendmahlsliturgie beinhalten – aus dem Gottesdienst verbannt. Für das komplette Messordinarium gab es daher im protestantischen Leipzig zu Bachs Zeiten keine Verwendung. Es hatte seinen Platz nur in der katholischen Liturgie.
Allerdings war an eine Aufführung der h-Moll-Messe im katholischen Gottesdienst genauso wenig zu denken. Denn Bach wich vom kodifizierten Text der römisch-katholischen Liturgie ab und gliederte die Messe in vier große Teile, wohingegen die katholische Messe aus fünf Teilen – Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus und Agnus Dei – besteht. Außerdem sprengt die h-Moll-Messe durch ihre gewaltigen Dimensionen von über zwei Stunden jeden liturgischen Rahmen, ganz gleich ob katholisch oder protestantisch. Bach schrieb das Werk wohl ohne Auftrag und Anlass. Und aller Wahrscheinlichkeit nach wurde es zu seinen Lebzeiten nie komplett aufgeführt, was allerdings nicht viel besagt, denn er stellte die h-Moll-Messe erst gegen Ende seines Lebens zusammen – vermutlich zwischen August 1748 und Oktober 1749 – und im Juli 1750 starb er.
Die meisten Teile des Werks sind jedoch wesentlich älter. Der erste, eine Missa brevis aus Kyrie und Gloria, entstand im Frühjahr 1733. Nachdem Kurfürst August der Starke am 1. Februar gestorben war, wurde für mehrere Monate ein Musizierverbot über ganz Sachsen verhängt. Diese Zwangspause nutzte Bach zur Komposition der Missa, die er dem neuen Kurfürsten Friedrich August II. widmete. Sein Ziel, die prestigeträchtige Ernennung zum Hofkomponisten, erreichte er jedoch erst drei Jahre später nach einer erneuten Eingabe. Der zweite Teil der Messe trägt den Titel Symbolum Nicenum – gemeint ist das Nizänische Glaubensbekenntnis, also das Credo. Bach griff hier unter anderem auf den Eingangschor seiner Weimarer Kantate »Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen« BWV 12 aus dem Jahr 1714 zurück, den er zum Crucifixus umarbeitete. Man könnte also sagen, dass sich die Entstehung der h-Moll-Messe über einen Zeitraum von 35 Jahren erstreckte!
Der dritte Teil, das Sanctus, stammt aus Bachs frühen Leipziger Jahren – er komponierte es für die Weihnachtsmesse 1724. Den letzten der vier Teile bilden die Abschnitte Osanna, Benedictus, Agnus Dei und Dona nobis pacem. Sie gehen wohl durchweg auf ältere Vorlagen zurück – das Osanna etwa auf den Eingangschor der Kantate »Es lebe der König« (BWV Anh. 11) zur Jahresfeier Augusts des Starken 1732. Die Vorlage des Benedictus ist zwar unbekannt, doch wegen des fast korrekturlosen Schriftbildes nimmt man an, dass Bach auch hier auf ältere Musik zurückgriff. Dem Agnus Dei liegt die Arie »Ach bleibe doch, mein liebstes Leben« aus dem Himmelfahrts-Oratorium (BWV 11) von 1738 zugrunde, und im Dona nobis pacem verwendete Bach noch einmal das »Gratias agimus tibi« aus dem Gloria. Es ist selbst bereits eine Parodie: Ihm liegt der Eingangschor der Kantate »Wir danken Dir, Gott, wir danken Dir« (BWV 29) zugrunde.