Entstehungszeit: 1733
Dauer: 33 Minuten
Jean-Philippe Rameau
Jean-Philippe Rameau griff die Errungenschaften Lullys später auf und entwickelte sie in seinen Opern weiter. Doch erst im Alter von 50 Jahren fühlte sich Rameau, der vier Jahre vor Lullys Tod geboren wurde, bereit, aus dem Schatten des großen Vorbilds zu treten. So komponierte er mit Hippolyte et Aricie seine erste Tragédie lyrique, nachdem er in Simon-Joseph Pellegrin einen Librettisten gefunden hatte, der seinen Ansprüchen genügte. In der Zwischenzeit hatte die italienische Opera seria Triumphe gefeiert. Gleichzeitig mit Rameaus ersten Tragediés lyriques schufen Händel und Vivaldi einige ihrer größten Opern. Doch das französische Musiktheater erhielt weiterhin standhaft seine Selbstständigkeit. Noch immer lag das Augenmerk auf dem affektgeladenen Rezitativ, dem Ballett und dem natürlichen Rhythmus der französischen Sprache, nicht wie bei den Italienern auf den virtuosen Koloraturen einer Da-capo-Arie. Auch wenn Arien wie »Tristes apprêts« aus Castor et Pollux oder »Lieux funestes« aus Dardanus eine ABA-Struktur haben, sind sie ganz in den dramatischen Zusammenhang und die umgebenden Rezitative eingebunden. Doch in der Behandlung des Orchesters und der Expressivität des Ausdrucks war Rameaus Musik buchstäblich unerhört fortschrittlich. Dieser moderne Stil mit ungewohnten, gewagten Harmonien schockierte das Publikum bei der Uraufführung von Hippolyte et Aricie 1733.
Die von Emmanuelle Haïm zusammengestellte Suite aus der Oper beinhaltet nicht nur brillante Orchestersätze, sie folgt auch Hippolyte und Aricie durch die Handlung, die eine Geschichte von verbotener Liebe, Eifersucht und göttlichem Eingreifen im antiken Griechenland erzählt. Phèdre liebt ihren Stiefsohn Hippolyte, der aber Aricie liebt, was diese erwidert. Phèdre schickt deswegen Aricie in den Tempel der Diane, wo sie eine keusche Priesterin werden soll. Als Phèdre ihre Gefühle offenbart, kommt es zum tragischen Zwischenfall. Thésée, Phèdres Mann, wird Glauben gemacht, dass sein Sohn seine Stiefmutter töten wollte, weswegen er seinen Vater Neptun bittet, Hippolyte zu vernichten. Dieser wird jedoch von Diane gerettet und das jugendliche Paar wird glücklich vereint.
Neben dem Ballett Les Indes galantes ist Rameaus zweite überlieferte Tragédie lyrique Castor et Pollux wohl sein meistgespieltes Bühnenwerk. Bei der Uraufführung 1737 hatte dieses Werk nur mäßigen Erfolg, doch schon ein paar Jahre später, 1755, wurde die Arie »Tristes apprêts« als Musterbeispiel französischer Gesangskomposition gepriesen. Am heutigen Abend nimmt diese Tragédie lyrique, bei der es um den Konflikt von Bruderliebe und konkurrierender Liebe zur Prinzessin Télaïre zwischen dem unsterblichen Pollux und seinem sterblichen Zwillingsbruder Castor geht, mit zwei Arien verhältnismäßig wenig Raum zugunsten der unbekannteren Werke ein.
Auch Dardanus (1739) wurde zunächst von der Phalanx der Traditionalisten abgelehnt. Erst 20 Jahre später erlebte das Werk – drastisch umgearbeitet – eine triumphale Wiederaufnahme. Die von Emmanuelle Haïm zusammengestellte Auswahl beginnt mit Auszügen aus dem von der Handlung unabhängigen allegorischen Prolog: Die Liebesgöttin Vénus besingt ihre Macht. Als L’Amour (Die Liebe) und Les Plaisirs (Die Vergnügungen) in ihrem Palast einschlafen, ruft Vénus La Jalousie (Die Eifersucht) herbei, um sie zu wecken.
Wie in der italienischen Oper bildete sich auch in der Tragédie lyrique eine Verbindung von Stimmfach mit Rollentyp heraus: Der jugendliche Held ist aufgrund der Ablehnung der »unnatürlichen« italienischen Kastraten stets ein Tenor (haute-contre), die ebenfalls jugendliche Heldin ein Sopran, während dramatische und mächtige Frauenrollen oft von dunkleren Mezzosopranen dargestellt wurden. Die für Aufführungen 1744 nachkomponierte Arie des Dardanus »Lieux funestes« schrieb Rameau für Pierre Jélyotte, der zahlreiche von Rameaus Tenorrollen aus der Taufe hob.
Nach Dardanus folgte eine sechsjähre Pause in Rameaus Schaffen, doch ab 1745 dominierten seine Werke so vollständig, dass seine Widersacher für ein Aufführungslimit kämpfen mussten. Gegen Ende seines Lebens wurde Rameau dann in eine neue musikalische Auseinandersetzung verwickelt. In der sogenannten »Querelle des bouffons« ging es wieder darum, welche Oper besser sei, die französische oder die italienische. Aber dieses Mal verkörperte die Oper Rameaus das konservative Ideal und die neumodische italienische Opera buffa war der gehypte letzte Schrei.