Von: Holger Schmitt-Hallenberg

Entstehungszeit: 1670
Dauer: 18 Minuten

  1. Ouverture
  2. 2ème Air (Gavotte)
  3. Canaries
  4. Marche pour la cérémonie des Turcs
  5. 1er Air des Espagnols (Sarabande)
  6. 2ème Air des Espagnols
  7. L’Entrée des Scaramouches, Trivelins et Arlequins
  8. Chaconne des Scaramouches, Trivelins et Arlequins
  9. »Bel tempo che vola« (Duett der italienischen Musiker*innen)

Musik aus Opern von Jean-Baptiste Lully und Jean-Philippe Rameau

Im 17. Jahrhundert war Paris nach London und Peking die drittgrößte Stadt der Welt: ein Zentrum von Macht, Wissenschaft und Kultur, das Menschen aus ganz Europa anzog. Diese Metropole war zutiefst katholisch, was zu engen Banden mit dem Vatikan führte. Politisch war Frankreich ebenfalls eng mit Italien verknüpft: Die Florentinerin Caterina deʼ Medici war von 1547 bis 1559 Königin von Frankreich und gebar drei französische Regenten. Und später regierte bis zur Mündigkeit Ludwigs XIV. der italienische Kardinal Giulio Mazzarino (Jules Mazarin) an seiner Stelle. Als es an die Planung neuer Paläste, Gärten und Straßen ging, war das erklärte Ziel, ein zweites Rom zu errichten. Mazarin sah Architektur, Kunst und Musik als Werkzeuge zur Demonstration von Macht und Prestige, aber auch zur »Verfeinerung« und Internationalisierung des französischen Hofes.

Die Oper als die neueste und prächtigste aller Kunstformen wurde ebenfalls ein Element des politischen Spieles. In Italien hatte die um 1600 entstandene Gattung bereits ihren Siegeszug angetreten. In den 1640er-Jahren wollte Kardinal Mazarin das Musiktheater auch in Frankreich einführen, nicht zuletzt, um die Bande zum musikliebenden Habsburgischen Hof in Wien zu stärken. Während der Hochzeit Ludwigs XIV. mit Maria Teresa von Spanien, ebenfalls eine Habsburgerin, wurde 1660 Francesco Cavallis Serse gegeben. Doch bereits zuvor wurde die italienische Oper in Paris erprobt: 1645 erfolgte am Hof eine Aufführung von Francesco Sacratis La finta pazza, 1646 von Cavallis Egisto und 1647 die Uraufführung von Luigi Rossis Orfeo. Diese Vorstellungen waren zwar gesellschaftliche und künstlerische Ereignisse, doch führten sie zu einer entschlossenen Gegenreaktion. Es wurde eine eigene französische Oper geschaffen, ganz bewusst im Gegensatz zur italienischen: die Tragédie en musique beziehungsweise die Tragédie lyrique.

Die treibende Kraft dieser Entwicklung war Jean-Baptiste Lully, der 1673 mit Cadmus et Hermione das erste Werk der neuen Gattung schuf. Als Direktor der von ihm gegründeten Académie royale de musique erarbeitete er sich eine derartig dominierende Position, dass er alle Aspekte des höfischen Musiklebens kontrollierte. Wenn der Sonnenkönig Ludwig XIV. in absolutistischer Machtvollkommenheit äußerte: »Der Staat bin ich«, dann hätte Lully triumphierend ergänzen können: »Und ich bin seine Oper«.

Lully wurde 1632 als Giovanni Battista Lulli in Florenz geboren. Während des Karnevals 1646 fielen sein Geigenspiel und seine Straßenclownereien dem Chevalier Roger de Lorraine auf, der einen jungen Mann suchte, mit dem seine Nichte auf Italienisch Konversation treiben konnte. So kam der 14-Jährige als garçon de chambre an den französischen Hof, wo er sicherlich auch Aufführungen italienischer Opern erlebte, während er sich einen eigenen Namen als Komponist machte. Cavallis Serse enthielt bereits 1660 reichlich Ballettmusik von Lully.

Ausgangspunkt der Erneuerungen war das pompöse ballet de cour, zu dem Lully selbst wichtige Werke beisteuerte. Dieses Genre vereinte Tanz, Sprechtheater und Gesang zu prachtvollen Aufführungen, die der ballettliebende Monarch und die Mitglieder des Hofes nicht nur passiv konsumierten, sondern an denen sie als Tänzerinnen und Tänzer aktiv teilnahmen. In ihren Tragédies en musique verbanden Lully und sein Librettist Philippe Quinault schließlich das Hofballett mit einer musikalischen Umsetzung des feierlichen Deklamationsstils der Sprechdramen von Jean Racine oder Pierre Corneille. In Zusammenarbeit mit dem Theaterdichter Molière entwickelte Lully neben dem ballet de cour auch das komische Comédie-ballet, das als letzter Schritt zur französischen Oper gelten kann. Die Ballettkomödie ist ebenfalls noch eine Mischform, doch nun steht zum ersten Mal die eigentliche Handlung im Zentrum der musikalischen Ausgestaltung.

Ein Meisterwerk der neuen Gattung ist zweifellos LeBourgeois gentilhomme (Der Bürger als Edelmann) von 1670, das sich als Schauspiel bis heute im Repertoire hält. Äußerer Anstoß der Entstehung war ein Besuch des türkischen Botschafters in Paris, der zu einem diplomatischen Zwischenfall und einer Kränkung des Sonnenkönigs führte. Molière und Lully erhielten daraufhin von Ludwig XIV. den Auftrag, eine Komödie zu schreiben, in der eine ironische türkische Zeremonie vorkommen sollte, heute Abend zu hören in der Marche pour la cérémonie des Turcs. Das Werk muss aber auch im größeren Kontext des Exotismus gesehen werden, der in den höfischen Balletten bereits auf eine etablierte Aufführungstradition zurückblicken konnte.

Die Handlung ist schnell erzählt: Der reiche, aber ungebildete Bürger Jourdain versucht mit allen Mitteln, adelig zu werden und nimmt Nachhilfe in Tanz, Musik, Fechten etc. Zudem will er seine Tochter Lucile mit einem Aristokraten verheiraten, doch sie liebt den Bürgerlichen Cléonte. Um eine Hochzeit möglich zu machen, gibt sich Cléonte als türkischer Adliger aus, was dem Standesdünkel Jourdains entspricht. Zudem verspricht er, Jourdain in den (frei erfundenen) Stand eines »Mamamouchi« zu erheben. Hocherfreut stimmt Jourdain zu, erlaubt die Heirat seiner Tochter mit Cléonte und macht sich zum Gegenstand des allgemeinen Spottes. Das Werk schließt mit dem berühmten Ballet des nations, das heute Abend in großen Teilen gespielt wird und in dem Franzosen, Spanier und Italiener auftreten.