Von: Kerstin Schüssler-Bach

Entstehungszeit: 1910, rev. 1947
Uraufführung: 13. Juni 1911 im Pariser Théâtre du Châtelet durch Sergej Diaghilews Ballets Russes, Dirigent: Pierre Monteux
Dauer: 33 Minuten

  1. ERSTES BILD
  2. Jahrmarkt in der Fastnachtswoche: Vivace - Lento -
  3. Russischer Tanz: Allegro giusto -
  4. ZWEITES BILD
  5. Petruschka: Impetuoso - Doppio valore - Andantino - Allegro - Vivo
  6. DRITTES BILD
  7. Der Mohr: L'istesso tempo - Sostenuto - Doppio movimento - Con furore - Sostenuto - Allegro -
  8. Walzer: Lento cantabile - Allegretto - Lento cantabile - Vivo - Agitato ma tempo di rigore -
  9. VIERTES BILD
  10. Jahrmarkt in der Fastnachtswoche (gegen Abend): Tempo giusto -
  11. Tanz der Ammen: Allegretto -
  12. Ein Bauer und ein Bär: Tempo giusto -
  13. Zigeunerinnen und ein genusssüchtiger Kaufmann: L'istesso tempo -
  14. Tanz der Kutscher: Allegro moderato -
  15. Die Maskierten: L'istesso tempo ma poco a poco agitato - Tempo giusto - Più mosso -
  16. Der Kampf (Der Mohr und Petruschka): Meno mosso -
  17. Petruschkas Tod: Lento, lamentoso -
  18. Die Polizei und der Gaukler: Più mosso - Lento -
  19. Petruschkas Geist erscheint: L'istesso tempo

Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 30. Dezember 1920 unter der Leitung von Gustav Brecher

Mit dem Ballett Petruschka betrat der junge Igor Strawinsky neuen Boden: Statt üppiger Märchenklangwelten, wie sie noch seinen Feuervogel prägten, beherrschen Leierkastenmelodien und holzschnitthafte Folklorismen, ein glasklarer Ton und rhythmische Sprungkraft die burleske Partitur. Ursprünglich hatte Strawinsky ein Orchesterwerk schreiben wollen, wobei sich »die hartnäckige Vorstellung einer Gliederpuppe, die plötzlich lebendig wird« herauskristallisierte. Mit dem Impresario Sergej Diaghilew und dem Bühnenbildner Alexandre Benois arbeitete er dieses Sujet für die in Paris beheimatete Compagnie Ballets Russes aus. Im Mai 1911 stellte Strawinsky die Partitur fertig. Die Ballerina Tamara Karsawina berichtet: »Stunden um Stunden arbeiteten wir bis zur völligen Erschöpfung. Der Choreograf Fokine raufte sich die Haare, war völlig entkräftet und hysterisch. Nur Strawinsky blieb unbeirrt.« Die Pariser Premiere am 13. Juni 1911, dirigiert von Pierre Monteux und mit Vaslav Nijinsky in der Titelpartie, wurde ein rauschender Erfolg. Ihr virtuoser Witz hat die Petruschka-Musik auch in den Konzertsälen heimisch werden lassen. Die in der Besetzung leicht reduzierte und klanglich geschärfte Neufassung von 1947 sollte auch Strawinskys urheberrechtliche Ansprüche in den USA wahren. Für einen Petruschka-Trickfilm von 1956 setzte er die Verwendung der Revision durch, was ihm Tantiemen von 10.000 Dollar einbrachte. »Was soll’s«, schrieb er – »ich mache es für Geld. Yes, sir!«

Die Handlung spielt zur Karnevalszeit 1830 auf dem Jahrmarkt von St. Petersburg: Im turbulenten Gedränge der Volksmassen dreht ein Leierkastenmann eine schlichte Melodie. Ein Trommelwirbel kündigt einen Marionettenspieler an. Er erweckt seine Figuren zum Leben: Petruschka, die Ballerina und den Mohren*. Sie tanzen einen »Russischen Tanz« nach originalen Volksliedmelodien. Im zweiten Bild vermittelt eine bitonale Klarinettenfanfare die innere Zerrissenheit von Petruschka, der aussichtslos in die Ballerina verliebt ist. Das dritte Bild zeigt den Mohren als Petruschkas Nebenbuhler. Die Kombination einer Melodie in den tiefen Holzbläsern mit stampfenden Ostinati der tiefen Streicher beschwört eine Vorahnung des Sacre du printemps herauf. Zu einer zirkushaften Melodie der Trompete tritt wieder die Ballerina auf. Mit dem Mohren tanzt sie einen grotesk verzerrten Walzer, den Strawinsky aus Tänzen Josef Lanners collagierte. Petruschka liefert sich mit dem Mohren einen heftigen Kampf.

Viertes Bild: Abendstimmung auf dem Jahrmarkt. Für den »Tanz der Kinderfrauen« und »Tanz der Kutscher« verwendete Strawinsky wieder russische Volksliedmelodien. Der »Bärentanz« zeigt Meister Petz im Brummen der Tuba und in tapsigen Bewegungen der Kontrabässe. Tänzer mit geheimnisvollen Masken reißen zur Übereinanderlagerung verschiedener Metren ihre Possen. Eine Trompetenfanfare und Petruschkas bitonales Motiv leiten das Finale ein: Nach einer wilden Verfolgungsjagd fällt Petruschka zu Boden, niedergestreckt vom Säbel des Mohren. Sein Kopf zerbricht zu einem trockenen Schlag des Tamburins. Der Gaukler will die zerstörte Marionette herzlos hinter die Bühne zerren, doch da taucht zu seiner triumphierenden Trompetenfanfare Petruschkas Geist auf: Spöttisch dreht er dem Publikum eine Nase und verschwindet.

* Der Begriff »Mohr« erscheint hier als Zitat aus dem Libretto. Seine Verwendung in diesem Programmheft bedeutet ausdrücklich keine Zustimmung zu seinem diskriminierenden Gehalt.