Entstehungszeit: 1911-1913
Uraufführung: 29. Mai 1913 im Théâtre des Champs-Elysées,
Paris durch Sergej Diaghilews Ballets Russes unter der Leitung von Pierre Monteux
Dauer: 33 Minuten
Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 20. November 1922, Dirigent: Ernest Ansermet
Vom Skandal zum Soundtrack: Kein Stück des 20. Jahrhunderts dürfte innerhalb weniger Jahre eine so radikale Umwertung erfahren haben wie Igor Strawinskys Le Sacre du printemps. Gipfelte die berüchtigte Pariser Uraufführung 1913 in einer Schlägerei, so untermalten die archaischen Rhythmen keine 30 Jahre später das Stampfen der Dinosaurier in Walt Disneys Trickfilm Fantasia. Und noch in einem weiteren Kinofilm nimmt Sacre eine prominente Rolle ein: in der Dokumentation Rhythm Is It! über ein Education-Tanzprojekt mit den Berliner Philharmonikern, Simon Rattle und Choreograf Royston Maldoom. Das Schlüsselwerk der Moderne ist heute ein Publikumsmagnet.
Strawinskys brachiale Entfesselung der Urkräfte setzt auf die Sprengkraft eines Riesenorchesters. In kollektiver Ekstase feiern die Klangeruptionen dieses Balletts den undomestizierten Kreislauf der Natur – ein »wunderschöner Alptraum«, wie der Komponistenkollege Claude Debussy leicht irritiert damals bemerkte. Jean Cocteau nannte Sacre eine »Symphonie, erfüllt von den Geburtswehen der Erde«.
Das urzeitliche Bild eines Festes »aus dem heidnischen Russland« war direkte Inspiration: »Alte Männer sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das geopfert werden soll, um den Gott des Frühlings günstig zu stimmen«. So beschreibt Strawinsky jene Vision, die ihn 1910 während der Arbeit an seinem ersten Ballett Der Feuervogel urplötzlich überfiel. Gemeinsam mit dem Maler und Archäologen Nicholas Roerich, einem Spezialisten für die slawische Frühgeschichte, entwickelte Strawinsky im Sommer 1911 aus dieser Idee das Szenarium.
Wie schon der Feuervogel und Petruschka entstand auch Sacre als Auftrag für die Ballets Russes, jene formidable Baletttruppe um den Impresario Sergej Diaghilew. Dessen Günstling Vaslav Nijinsky wurde auch mit der Choreografie der Uraufführung betraut.
Die Sacre-Partitur – der Boulez übrigens eine detaillierte Analyse widmete – ist alles andere als »primitiv«, sondern mit einer provozierenden Progressivität organisiert. Ihre elementare Wucht gewinnt sie durch die Verbannung konventioneller Melodik zugunsten kleiner, diatonischer Zellen, deren brodelnde, kurzatmige Konsistenz wie ein Stochern in vor-folkloristischer melodischer Ursuppe wirkt. Gleich der Beginn ist symptomatisch: Im eigenartigen Klang seiner hohen Lage zitiert das Fagott ein litauisches Volkslied. Sein Klageruf verdichtet sich in den Holzbläsern zu einer chaotischen Signalpolyfonie, bis sich plötzlich der dominierende Parameter dieses Stücks den Raum erobert: nicht die Melodik, sondern die Rhythmik – ein obsessives Pulsieren, das immer wieder durch blitzartige Akzente gestört wird. Mit geradezu anarchischer Lust setzt Strawinsky metrische Schwerpunkte außer Kraft. So wie er durch permanente Taktwechsel eine verstörende Instabilität auslöst, zieht er auch den nach harmonischer Orientierung strebenden Hörenden den Boden unter den Füßen weg. Aus bi- und polytonalen Feldern wuchern grell-dissonante Blöcke. Und als wäre der Schlagzeugapparat nicht schon groß genug, werden auch die Streicher gelegentlich als Schlaginstrumente eingesetzt. Die bruitistische Wucht dieser Urlaute wird immer wieder durch raffinierte Steigerungen und Abbrüche in Bewegung gehalten – bis zu den allerletzten überraschenden Schlusstakten.