Entstehungszeit: 1970
Uraufführung: 25. Juli 1970 beim Festival in Aix-en-Provence durch Mstislaw Rostropowitsch (Violoncello) und das Orchestre de Paris, Dirigent: Serge Baudo
Dauer: 26 Minuten
Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 19. Dezember 1981, Violoncello: Wolfgang Boettcher, Dirigent: Hans Zender
In den letzten Jahrhunderten waren es oft die Musiker selbst, die sich für die Erweiterung ihres Konzertrepertoires engagierten – vor allem bei Instrumenten wie dem Violoncello, für das es nur wenige Solokonzerte gab und gibt. Der russische Cellist Mstislaw Rostropowitsch war diesbezüglich besonders erfolgreich. Auf sein Konto gehen im 20. Jahrhundert etwa die beiden Cellokonzerte Dmitri Schostakowitschs sowie Benjamin Brittens Cello Symphony, Sergei Prokofjews Sinfonia Concertante für Cello und Orchester und die Cellokonzerte von Witold Lutosławski und Krzysztof Penderecki. Die aufregende Klangsprache des französischen Komponisten Henri Dutilleux entdeckte Rostropowitsch Mitte der 1960er-Jahre, als er in Moskau ein Konzert mit Dutilleuxʼ Erster Symphonie erlebte. Er fragte beim Komponisten sofort ein Cellokonzert an, dem später noch eine Solosonate für Cello folgen sollte. Dutilleux war schnell überzeugt, arbeitete aber – als größter Kritiker seiner selbst – langsam und genau. 1970 war die Komposition nach mehreren Jahren Reifezeit beendet und wurde in Aix-en-Provence mit großem Erfolg dem Publikum vorgestellt. Das ist insofern bemerkenswert, da Dutilleux zu seiner Zeit oft im Schatten von Olivier Messiaen und Pierre Boulez stand, die in Frankreich als die wichtigsten Vertreter der Moderne gefeiert wurden.
Dutilleux ging im 20. Jahrhundert unbeirrt seinen ganz eigenen Weg als Komponist, auch mit seinem Cellokonzert, dem er den vagen Titel Tout un monde lontain … (Eine ganz entfernte Welt …) für Violoncello und Orchester gab. Wie auch für die Motti der einzelnen Sätze griff er dabei auf eine Zeile aus der Gedichtsammlung Die Blumen des Bösen von Charles Baudelaire zurück. Les Fleurs du mal, so der französische Titel, provozierten in ihrer Entstehungszeit, gut 100 Jahre früher, zunächst Irritation und Ablehnung. Bald aber gehörten sie zu den wichtigsten Werken der Weltliteratur. In den Gedichten werden explizit die dunklen und unbekannteren Seiten der Menschheit zum Thema: Erotik und Sexualität, das Böse, Melancholie und Weltschmerz, Traum und Tod.
Diese Auren der Leidenschaft, der Verführung, des dunklen Rauschs aus Baudelaires Gedichten sind auch in Dutilleuxʼ Musik spürbar, ohne dass es sich hier um Programmmusik handeln würde. Es sind vielmehr vage Assoziationen, Erregungen und Visionen, die sich aus dem Zusammenspiel der poetischen Titel und der Musik entspinnen, getragen von einem Instrumentarium, das unter anderem mit Celesta, Harfe und vielfältigem Schlagwerk ungewöhnliche Klangakzente setzt. In fünf nahtlos ineinander übergehenden Sätzen zelebriert Dutilleux die Kunst der Variation, als ein Spannungsfeld von fester Form und scheinbar improvisierender Freiheit. Tout un monde lontain … ist – nicht zuletzt – eine Exploration der bis dahin unbekannten akrobatischen und atmosphärischen Welten, die auf dem Violoncello im 20. Jahrhundert erschlossen wurden: an der Grenze zum Unspielbaren, im Graubereich des Unsagbaren.