Entstehungszeit: 1908-1910
Uraufführung: 26. Juni 1912 in Wien durch die Wiener Philharmoniker
unter der Leitung von Bruno Walter
Dauer: 83 Minuten
Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 4. Februar 1913, Dirigent: Oskar Fried
Als Gustav Mahler nach seiner Achten Symphonie ein neues Orchesterwerk zu schreiben begann, war der Mythos um Neunte Symphonien vielleicht auf seinem Höhepunkt – waren doch weder Beethoven noch Schubert noch Bruckner in ihrem symphonischen Schaffen über diese Anzahl hinausgelangt. Mahler selbst, nicht frei von Aberglauben, nannte das Stück daher nicht Symphonie, sondern Lied von der Erde. Erst danach fühlte er sich bereit, wirklich eine »Neunte« in Angriff zu nehmen. Er tat dies mit ersten Skizzen im Sommer 1908 in Toblach, seinem Südtiroler Urlaubsdomizil. Im Jahr zuvor hatten ihn mehrere Schicksalsschläge getroffen: Seine Tochter war vierjährig gestorben, bei ihm selbst war eine Herzinsuffizienz diagnostiziert worden, und man hatte ihn aus seinem Amt als Direktor der Wiener Hofoper gedrängt. Nun aber besserte sich Mahlers Stimmung, zumal ein attraktives Engagement an der New Yorker Met anstand. Im darauffolgenden Sommer holte Mahler seine Skizzen wieder hervor und schloss in einem Schaffensrausch die eigentliche Komposition ab. In ihr sei, schrieb er an den Dirigenten Bruno Walter, »etwas gesagt, was ich seit längster Zeit auf den Lippen habe«. Sein Manuskript, laut eigener Aussage »für fremde Augen wohl ganz unleserlich«, kopierte er 1910 in New York in eine Reinschrift.
Bevor er aber an eine Aufführung der Symphonie denken konnte, verschlimmerte sich seine Herzschwäche zu einer unheilbaren Endokarditis. Im Mai 1911 gelang es, ihn wieder nach Wien zu bringen, wo er eine Woche nach der Ankunft starb. Mit Mahlers Tod begann die Legendenbildung um die Neunte, die Uraufführung 1912 verstärkte sie weiter: Hatte der Komponist mit diesen Klängen vom Leben Abschied genommen? »Was mir der Tod erzählt«, spekulierte der Musikschriftsteller Paul Bekker, sei die geheime Überschrift – doch als Mahler diese Symphonie schrieb, war er nicht einmal 50 Jahre alt und seine Krankheit noch längst nicht lebensbedrohlich. Gleichwohl findet der Komponist in dieser Neunten zu einem radikal subjektiven Ton, ohne Rücksicht auf die Hörerwartungen der Öffentlichkeit.
Mit ihren vier Sätzen, rein orchestral ohne Gesang, bewegt sich die Symphonie auf den ersten Blick in üblichen Bahnen. Allerdings sind die Außensätze nicht nur außerordentlich lang, sondern noch dazu beide in langsamem Tempo gehalten; nur die Binnensätze kommen gemessen bis zügig daher. Arnold Schönberg meinte, das Werk sei »nicht mehr im Ich-Ton gehalten«, als ob es »noch einen verborgenen Autor gebe, der Mahler bloß als Sprachrohr benützt hat«. Das bestätigen besonders die beiden mittleren Sätze: Sie beschwören volkstümliche Tänze und Formen (Ländler und Walzer im zweiten, vertrackte Fugati im dritten), teils verfremdet, teils verzerrt – von »grimmiger Lustigkeit« sprach der mit Mahler vertraute Dirigent Willem Mengelberg. Andererseits klingen der erste und letzte Satz auf eine fast schmerzvolle Weise intim, als läge jemand sein Innerstes offen, sich schutzlos der Mit- und Nachwelt ausliefernd. Im großen Andante, mit seinen drei Themen an die klassische Sonatenform angelehnt, suchen sich fragmentarische Tonfolgen zu Melodien zusammen, sie etablieren die von Mahler mit »Leb wohl« bezeichnete fallende Sekunde als wichtiges Intervall, formieren sich zu großen Gebilden, jubelnden Aufschwüngen, mysteriösen Neuansätzen und »mit Wut« zu spielenden Ballungen. Die Katastrophe bleibt nicht aus, der Tod klopft an mit schwerem Rhythmus in Posaunen und Tuba; aus der Ferne antworten Trompeten mit einem Trauermarsch (»wie ein schwerer Condukt«). Am Schluss öffnet sich der Vorhang zu einer Idylle, Vogelstimmen tönen in der Flöte: ein Einblick in eine andere Welt. Das Adagio-Finale mäandert und umkreist eine Doppelschlagfigur, als wolle es nie aufhören – es ist, nach einem Wort des Musikwissenschaftlers Carl Dahlhaus, »eine Musik, von der es manchmal scheint, als sei sie jenseits ihrer selbst«.