Von: Tobias Bleek

Entstehungszeit: -1910
Uraufführung: 12. Oktober 1924 in Wien durch die Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Franz Schalk
Dauer: 25 Minuten

  1. Adagio

Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 8. April 1960 im Konzertsaal Hardenbergstraße, Dirigent: Constantin Silvestri

Im Frühjahr 1924 schrieb der Mahler-Verehrer Anton Webern einem Musikerfreund: »X. Mahler, wenn man sie nur endlich schon hätte. Ich kann es nicht erwarten. Was wird da drinnstehen!!!!« Seit Gustav Mahlers Tod war für mehr als ein Jahrzehnt über dieses letzte, Fragment gebliebene Werk spekuliert worden. 1924 setzte Alma Mahler den Mutmaßungen ein Ende und veröffentlichte ein Faksimile des erhaltenen Manuskripts. Außerdem sorgte sie dafür, dass ihr Schwiegersohn Ernst Krenek eine Konzertfassung der beiden am weitesten gediehenen Sätze erstellte. Am 12. Oktober wurden der langsame Eröffnungssatz und ein als dritter Satz geplantes komprimiertes Intermezzo von den Weiner Philharmonikern unter Leitung von Franz Schalk aufgeführt.

Das Publikum klatschte stürmisch Beifall. In den Feuilletons hingegen stritt man sich über den gewagten Aufführungsversuch und den Umgang mit dem unvollendet gebliebenen Werk. So kam der Kritiker der Neuen Musik-Zeitung zu dem Schluss, dass es nicht im Interesse des Komponisten gewesen sein könne, »etwas so unfertig aus der Hand« zu geben. Der Wiener Starkritiker Julius Korngold sah das im Fall des in einem vollständigen Partiturentwurf vorliegenden Eröffnungssatzes anders und resümierte: »eine Mahler durchaus würdige Schöpfung, die der Musikwelt mit recht bekannt gemacht werden durfte«. Die Veröffentlichung von Mahlers symphonischem Fragment war auch umstritten, weil das Manuskript ungefiltert Aufschluss über die prekäre Seelenlage des Komponisten gibt. So erfuhr Mahler während der Skizzierung des Werkes im Sommer 1910 von der Affäre seiner Frau mit dem Architekten Walter Gropius. Tieferschüttert setzte er die Arbeit fort, schrieb in die Partitur zwischen den Noten eingestreute Verzweiflungsrufe und veränderte wohl auch die musikalische Konzeption seiner letzten Symphonie.

Im Fall des langsamen Eröffnungssatzes, den Mahler schon vor der Entdeckung der Affäre skizziert hatte, gibt es solche Eintragungen nicht. Ähnlich wie in den Rahmensätzen der Neunten Symphonie basiert der erste Satz auf der Gegenüberstellung von zwei verschiedenen Klang- und Ausdruckswelten, die sich im Satzverlauf verflüssigen. Eröffnet wird das Werk mit einem ausgedehnten Solo der Bratschen: leise und zugleich hochexpressiv, rhapsodisch im Tonfall, frei schweifend in der Melodieführung über tonal unsicherem Grund. Nach fünfzehn Takten öffnet sich plötzlich eine andere Welt: Ein Choral in den Streichern und drei Posaunen mit einem weitgespannten Thema in den ersten Geigen – »sehr warm«, wie der Komponist bereits im Partiturentwurf vermerkte. Auf dem Höhepunkt des Satzes kommt es dann zu einem unvermittelten Einbruch. Ein Ausbruch des gesamten Orchesters im entfernten as-Moll, gefolgt von einem hochdissonanten, neun verschiedene Töne umfassenden »Schreckensakkord«. Ihn auch als Sinnbild der persönlichen Katastrophe zu deuten, die Mahler damals widerfuhr, liegt auf der Hand. So scheint er die verstörende Stelle erst nachträglich eingefügt zu haben. Ein aufschlussreicher Subtext sind in diesem Zusammenhang zwei Verse aus einem Gedicht, das der Komponist nach einer Unterredung mit Sigmund Freud seiner Frau schickte: »Zusammen floss zu einem einzigen Akkord / Mein zagend Denken und mein brausend Fühlen.«