Entstehungszeit: 1908-1909
Uraufführung: 20. November 1911 in München mit dem Konzertvereinsorchester, Dirigent: Bruno Walter, Solist*innen: Sarah Charles Cahier und William Miller
Dauer: 60 Minuten
Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 18. Oktober 1912, Dirigent: Oskar Fried,
Solist*innen: Sarah Charles Cahier und Paul Seidler
Für den bedeutenden Mahler-Dirigenten und -Vertrauten Bruno Walter bestand kein Zweifel. Mit dem Lied von der Erde habe der Komponist nicht nur das »Mahlerischeste« seiner Werke geschaffen, sondern sei zugleich auch im Angesicht der Vergänglichkeit in Neuland aufgebrochen: »Die Erde ist im Entschwinden, eine andere Luft weht herein, ein anderes Licht leuchtet darüber ….« Ein halbes Jahr nach dem frühen Tod seines Mentors hatte Bruno Walter das Lied von der Erde am 20. November 1911 in München uraufgeführt – für viele Mahler-Verehrer ein mit großer Spannung erwartetes, hochemotionales Ereignis. Die Musik sei »unfaßlich schön«, berichtete der eigens aus Berlin angereiste Anton Webern einem Freund: »Ganz unglaublich.« Und in der Wiener Freien Presse schrieb der Musikkritiker und erste Mahler-Biograf Richard Specht über den gewichtigen Finalsatz des eigentümlichen Werks: »Ich weiß in der Musik nur ganz wenige Stücke, die eine ähnlich erschütternde Sprache reden ….«
Im Schaffen Gustav Mahlers markiert das Lied von der Erde den Beginn des Spätwerks. Entstanden ist es in einer Zeit existenzieller Erschütterungen und einschneidender Lebensveränderungen. 1907 hatte Mahler seine Tochter Maria Anna verloren und erfahren, dass er selbst an einem schweren Herzklappenfehler leidet. Befeuert durch eine antisemitisch geprägte Pressekampagne, hatte er zudem den Posten des Hofoperndirektors aufgegeben und seinen Wirkungsschwerpunkt als Dirigent von Wien nach New York verlagert. Nach einer erfolgreichen ersten Saison kehrte Mahler mit seiner Familie im Mai 1908 nach Europa zurück. Als er einige Wochen später ein neues Sommerquartier in der Nähe von Toblach bezog, waren die Ereignisse des Vorjahres allerdings nach wie vor omnipräsent. Er habe »mit einem Schlage alles an Klarheit und Beruhigung verloren, was ich mir je errungen«, bekannte Mahler in einem Brief an Bruno Walter. Nun gelte es, »am Ende eines Lebens als Anfänger wieder gehen und stehen zu lernen«. Dass es Mahler gelang, zumindest auf schöpferischem Gebiet die Lähmung rascher zu überwinden als gedacht, bezeugt ein zwei Monate später verfasster Brief an denselben Adressaten, in dem er von der Komposition eines neuen Werkes berichtet: »Mir war eine schöne Zeit beschieden, und ich glaube, daß es wohl das Persönlichste ist, was ich bis jetzt gemacht habe.« Wie das »Ganze benannt« werden könne, wisse er allerdings »selbst nicht zu sagen«.
Dass der Komponist bei der Titelwahl zögerte, hängt mit der hybriden Natur des Liedes von der Erde zusammen. So tritt die enge Verbindung von Symphonischem und Liedhaften, die Mahlers gesamtes Schaffen charakterisiert, hier gleichsam in potenzierter Form in Erscheinung. Grundlage der sechs Sätze sind Nachdichtungen altchinesischer Gedichte, die der Komponist aus Hans Bethges 1907 veröffentlichter Anthologie Die chinesische Flöte entnahm und selbst weiter bearbeitete. Vorgetragen werden sie im Wechsel von einer Tenor- und einer Altstimme. Was auf den ersten Blick wie eine Folge von Orchesterliedern erscheinen könnte, entpuppt sich allerdings im Werkverlauf als eine Art Symphonie in Liedern. Zielpunkt ist dabei der letzte Satz »Abschied«. Er knüpft an das Vorangegangene an, untermauert in seiner formalen Anlage und seinem Ausdrucksspektrum den symphonischen Anspruch und ist mit einer Spieldauer von knapp 30 Minuten fast so lang wie die fünf vorherigen Sätze. Zusammengeführt werden darin auch die ideellen Fäden des Werkes: der melancholische Blick auf die Welt, die nostalgische Beschwörung des Lebens im Angesicht der eigenen Vergänglichkeit und die Auseinandersetzung mit dem nahenden Tod. Die letzten Verse, die mit dem Wort »ewig« enden, das insgesamt neunmal erklingt, stammen aus Mahlers Feder. Dieses außergewöhnliche Ende »habe die Schönheit der Einsamkeit und des Schmerzes, der Stärke und der Freiheit«, notierte Benjamin Britten voller Bewunderung: »Ich kann es nicht verstehen – Es geht über mich hinweg wie eine Flutwelle.«