Von: Wolfgang Stähr

Entstehungszeit: 1822
Uraufführung: 17. Dezember 1865 im Wiener Musikvereinssaal unter der Leitung von Johann Herbeck
Dauer: 22 Minuten

  1. Allegro moderato
  2. Andante con moto

Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 8. Februar 1884, Dirigent: Joseph Joachim

Wie stellen wir uns das vor? Ein Autor schreibt einen Roman, der Anfang ist ihm einzigartig gut gelungen, aber dann weiß er nicht, wie sein Buch enden soll, und bricht die Arbeit verzweifelt ab: Welch ein Jammer um den herrlichen Anfang! So ungefähr denken unzählige Musikforschende über Franz Schubert, der 1822 seine h-Moll-Symphonie begann, wie noch nie zuvor jemand eine Symphonie begonnen hatte, danach noch einen zweiten Satz komponierte und einen dritten in Angriff nahm. Und schließlich aufgab, einfach aufhörte. Fakt ist, dass ihn eine Auftragsarbeit dazu brachte, die Symphonie erstmal zur Seite zu legen. Aber warum brachte er sie später nicht zu Ende? Niemand weiß es, aber die Theorie, dass er kein Ende für diesen Anfang fand, dass der Beginn eine Erwartung weckte, die kein Finale einlösen konnte, bleibt eine gute Wahl unter den vielen Spekulationen. Die Gründe könnten auch ganz andere sein (Krankheit, keine Zeit, keine Aufführung in Aussicht), egal, der Mythos des schönen Scheiterns passt wunderbar zum Romantiker. Dabei könnte man mit gleichem Recht fragen, welchen Luxus sich Franz Schubert erlaubte, eine Symphonie wie diese schlichtweg in der Schublade liegen zu lassen.

Das allerdings tat er gar nicht. Die Reinschrift der Partitur der ersten zwei Sätze gelangte auf heute nicht mehr nachvollziehbaren Wegen in die Hände der Brüder Anselm und Josef Hüttenbrenner. Sie hielten sie bis lange nach Schuberts Tod unter Verschluss, bevor sich Anselm als alter Herr überreden ließ, die Symphonie herauszurücken, sofern im selben Wiener Gesellschaftskonzert auch eine von ihm komponierte Ouvertüre auf dem Programm stünde. Deshalb kam die »Unvollendete« erst 1865, 43 Jahre nach ihrer Entstehung, zur Uraufführung.

Aber sobald die Musik anfängt, macht sie alles vergessen. Und sie beginnt, wie nie eine Symphonie begann: in völliger Finsternis, mit einem Schicksalsspruch in den schwärzesten Tiefen der Celli und Kontrabässe. Die diffuse Atmosphäre klärt sich nicht auf, sie bleibt undurchdringlich, unheimlich, ominös. Ein Klopfzeichen im Pizzicato der Streicher, eine Art Nieselregen in den Violinen, darüber eine ziellose Melodie der Oboe und der Klarinette, die wie ein Ruf ins Leere tönt, von schroffen Akzenten und krachenden Akkorden bedroht: Detonationen im Dunkeln. Schubert setzt gerne auf solche Schockeffekte, beispielsweise wenn die zweite, ländlerartig in sich kreisende Melodie (zuerst in den Celli) plötzlich vom Orchestertutti im Fortissimo mit schaurigen Tremoli wie in einem gruseligen Nachtstück überwältigt wird. Oder wenn das düstere Orakel der Bässe zum dritten Mal erscheint, im Abgrund versinkt und ein Heulen und Ächzen anhebt, als würden sich Gräber auftun: schwarze Romantik.

Auch der zweite Satz in E-Dur, ein Andante con moto und damit im Tempo vom ersten kaum unterschieden, ist geradezu gewaltsamen Spannungen ausgesetzt. Er spricht in leisen Tönen ebenso wie in dröhnender Monumentalität von Abschied, Endzeit, letzten Stunden. Das volle Orchester intoniert einen Trauermarsch wie zu einem Staatsbegräbnis; später rufen die Posaunen sogar zum Jüngsten Gericht, als hätte sich Schubert auf die Komposition eines katholischen Requiems verlegt. Doch schon der Anfang des Satzes mit den Hornquinten, den »wandernden« Bässen, bald darauf die Streicherkantilenen mit ihren Klauseln und Kadenzformeln, die Klarinetten- und Oboensoli mit ihrem Lebewohl wie aus Reiseliedern: Alles zielt auf eine Trennung ohne Wiederkehr, ehe die letzten Takte den Übergang auf die andere Seite zelebrieren. Wie hätte es danach noch weitergehen sollen? Und vor allem: warum? Franz Schuberts »Unvollendete« war zu Ende.