Von: Susanne Stähr

Entstehungszeit: 1953
Uraufführung: 17. Dezember 1953 in Leningrad (heute St. Petersburg) durch die Leningrader Philharmoniker, Dirigent: Jewgenij Mrawinsky
Dauer: 50 Minuten

  1. Moderato
  2. Allegro
  3. Allegretto – Più mosso
  4. Andante – Allegro – L’istesso tempo

Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 1. März 1959 im Konzertsaal der Hochschule der Künste, Berlin, unter der Leitung von Herbert von Karajan

Am 5. März 1953 starb Josef Stalin – und in der Sowjetunion brach die große Trauer aus. Hunderttausende drängten sich in den Straßen Moskaus, um seinen aufgebahrten Leichnam zu sehen. Dmitri Schostakowitsch aber empfand Stalins Tod als große Befreiung. 17 Jahre lang hatte er mit Schikanen, Verboten und Maßregelungen leben müssen, bloß weil seine Musik dem Diktator nicht gefiel. Er lief sogar Gefahr, verhaftet, in einen Gulag verschleppt oder ermordet zu werden. Stalins Ende setzte bei Schostakowitsch neue kreative Kräfte frei. Erstmals seit acht Jahren nahm er wieder eine Symphonie in Angriff, seine Zehnte, die er über den Sommer 1953 zu Papier brachte. Sie wurde zu seiner persönlichen Abrechnung mit dem Stalinismus.

Im ersten Satz, der mit nachtschwarzen Klängen der Celli und der Kontrabässe anhebt, zeichnet Schostakowitsch ein Porträt der sowjetischen Gesellschaft unter Stalin: Die Menschen haben Angst, sie werden unterdrückt und verfolgt, der Tod ist allgegenwärtig. Doch nach knapp drei Minuten erhebt sich eine einzelne Stimme, die Soloklarinette. Sie stimmt das wehmütige zweite Thema an, als wolle sie an alte, bessere Zeiten erinnern. Die Melodie kann aber nicht aufblühen, und auch der folgende tänzerische Gedanke wird jäh ausgebremst, muss immer wieder von vorn beginnen. Die Fieberkurve steigt unaufhaltsam: Es kommt zu heftigen Klangentladungen des Blechs und des Schlagwerks, fast schon körperlich schmerzhaft. Ist das der Widerstand? Gegen Ende bricht das Aufbäumen in sich zusammen, und die Musik kehrt zur Atmosphäre des Anfangs zurück.

Ein Scherzo schließt sich an – aber lustig ist es nicht. Denn Schostakowitsch zeichnet hier ein Porträt von Stalin höchstselbst: mit einer Hetzjagd, harten Schlägen, brutalen Akzenten und rasenden Sechzehnteln – eine manische, erbarmungslose Klangwelt, die Bilder von Gewalt weckt. Schostakowitsch selbst hat diesen Satz sarkastisch kommentiert: »Ich muss schon sagen, es war eine schwere Arbeit, den Wohltäter der Menschheit symphonisch darzustellen.« Als Hauptthema wählte er dabei eine grotesk beschleunigte Version von Stalins Lieblingslied Suliko, das er in den marschierenden Zweivierteltakt setzt.

Wie aber soll es nach Stalins Tod weitergehen? Schostakowitsch komponiert im dritten Satz eine Musik, die das Offene, Unsichere der Situation spiegelt. Und er meldet sich selbst zu Wort, mit seinem musikalischen Monogramm, nämlich der Notenfolge D-Es-C-H, die seinen Initialen entspricht: D für Dmitri und Es-C-H für Schostakowitsch. Zaghaft klingt seine Stimme zunächst, wie eine zappelnde Marionette, als sei er noch am Gängelband des Systems. Aber er traut sich wieder, Ich zu sagen. Allerdings erklingt bald auch ein rätselhafter Hornruf, insgesamt zwölf Mal sogar, wie eine Mahnung: »Seid wachsam und hütet euch. Denn der Teufel, euer Widersacher, kann noch unter euch sein …«

Wenn Schostakowitsch im Finale nach einer verhaltenen Einleitung den Durchbruch zur positiven Stimmung wagt, ist tatsächlich Skepsis angebracht. Der wirbelnde Tanz wirkt eine Spur zu aufgedreht, um wahr zu sein. Vor allem mischen sich plötzlich die schrecklichen Motive aus dem Stalin-Scherzo ins bunte Treiben! Zumindest in der Erinnerung, in den vergifteten Gedanken, lebt Stalin fort. Und doch ist Schostakowitsch stark genug, um dem Tyrannen die Stirn zu bieten. Am Ende der Symphonie posaunt er sein Monogramm buchstäblich heraus und übertönt damit sowohl die Volksfeststimmung als auch die Stalin-Trommeln. D-Es-C-H: »Ich, Dmitri Schostakowitsch, ich habe dich überlebt, Stalin!« Seine Zehnte Symphonie ist ein Appell gegen das Unrecht und für die Freiheit, die Wahrheit, die Menschlichkeit.