Von: Susanne Stähr

Entstehungszeit: 1885-1886
Uraufführung: 19. Mai 1886 in der St. James’s Hall, London, unter der Leitung des Komponisten
Dauer: 35 Minuten

  1. Adagio – Allegro moderato – Poco adagio
  2. Allegro moderato – Presto – Allegro moderato – Presto – Maestoso – Allegro – Più allegro – Molto allegro – Pesante

Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 22. April 1897, Dirigent: Édouard Colonne

1857 erhielt der 22-jährige Camille Saint-Saëns einen Ruf als Titularorganist an die Pariser Église de la Madeleine, die wohl mondänste Kirche in der Seine-Metropole. Sonntag für Sonntag trafen dort die Spitzen der Gesellschaft zum Gottesdienst zusammen, aber Saint-Saëns interessierte weniger das soziale Prestige als das Instrument, das er in der Madeleine spielen durfte: die große Orgel von Aristide Cavaillé-Coll, die 1845 erbaut worden war. Auf ihr fühlte er sich ganz in seinem Element. Und ohnehin, so erklärte er im Alter, seien die 20 Jahre, die er mit der Cavaillé-Coll-Orgel verbringen konnte, die glücklichste Zeit seines Lebens gewesen. Mit seinen glanzvollen Improvisationen verführte Saint-Saëns die Größen der Musikwelt dazu, nach Paris zu pilgern. Clara Schumann schaute vorbei, um ihn zu hören, Pablo de Sarasate machte seine Aufwartung. Und Franz Liszt kam aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus: »Saint-Saëns ist der beste Organist der Welt«, lautete sein euphorisches Urteil.

Merkwürdig nur, dass Camille Saint-Saëns relativ wenig für die Orgel komponierte. Möglicherweise lag es an seinem Faible für die Kunst der Improvisation. »Leidenschaftlich liebe ich die Freiheit«, bekannte er. Vielleicht war es gerade dieser Freiheitswille, der ihn dann doch noch dazu verleitete, ein Werk für die Orgel zu schreiben, das diese einmal ganz anders und völlig unkonventionell zur Geltung bringt: die Dritte Symphonie in c-Moll, die sogenannte »Orgelsymphonie«, die 1885/86 im Auftrag der Philharmonischen Gesellschaft in London entstand. Der Beiname stammt übrigens nicht von Saint-Saëns selbst, und anders, als man denken könnte, übernimmt das Instrument in der Partitur auch keine konzertante Rolle. Sogar das Klavier, das ebenfalls Teil des Orchesters ist und zu vier Händen gespielt wird, sticht mit virtuosen Einlagen oft stärker hervor. Die Orgel präsentiert Saint-Saëns dagegen meist in getragenen Akkorden und grundiert so die brillante Orchestrierung. Bis sie überhaupt einmal einsetzen darf, vergehen glatte zehn Minuten, und auch im zweiten der beiden Sätze ist sie nur in der abschließenden Hälfte zu hören – dann wird sie allerdings sogar das markante Schlussthema intonieren. Doch wann immer sie erklingt, verleiht sie dem Werk eine archaische und weiträumige Aura.

Dass Saint-Saëns die »Orgelsymphonie« Franz Liszt widmete, hatte nicht nur mit der gegenseitigen Bewunderung zu tun, die beide Komponisten verband. Der Aufbau des Werks lehnt sich vielmehr eng an Liszts epochale Klaviersonate in h-Moll an. Hier wie dort entwickelt sich das gesamte thematische Material aus kleinen Keimzellen: Bei Saint-Saëns spielt dabei die gregorianische Sequenz des Dies irae, des mittelalterlichen Hymnus über das Jüngste Gericht, eine zentrale Rolle. Sie wird zwar nicht original zitiert, doch ihre Tonschritte inspirieren die zentralen Gedanken, die sich dann immer weiter verzweigen. Ganz wie bei Liszts einsätziger Sonate, die verdeckt doch die traditionelle Viersätzigkeit umfasst, verbergen sich hinter den zwei Sätzen der Orgelsymphonie ebenfalls letztlich vier. Das ist sogar gut zu hören, denn die beiden Abschnitte innerhalb der Sätze werden jeweils durch Generalpausen getrennt.

»Alles aus Einem« lautet das Prinzip: Mit der thematischen Vernetzung nahm Saint-Saëns bereits die Idee des »thème cyclique«, des »zyklischen Themas«, vorweg, das der Belgier César Franck zwei Jahre später in seiner d-Moll-Symphonie präsentieren sollte. Kompositionstechnisch machte die Orgelsymphonie also Schule, aber in ihrer Besetzung blieb sie doch lange ein Solitär. Saint-Saëns war stolz auf dieses Werk und wusste, dass er damit der französischen Symphonik, die im 19. Jahrhundert sonst kaum eine Rolle gespielt hatte, einen wichtigen Anstoß verlieh.