Entstehungszeit: 1927
Uraufführung: 27. November 1926 als Pantomime am Kölner Opernhaus, Dirigent: Eugen Szenkar; als Suite am 15. Oktober 1928 in Budapest, Dirigent: Ernst von Dohnányi
Dauer: 21 Minuten
Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 10. November 1955 (Konzertsuite), Dirigent: Hans Rosbaud
Béla Bartók hatte seine ausgedehnten musikethnografischen Feldforschungen noch nicht abgeschlossen, als er sich einem gänzlich anderen Sujet zuwandte. Die Uraufführung der Tanzpantomime Der wunderbare Mandarin verursachte am 27. November 1926 einen der berühmtesten Skandale der Musikgeschichte. Köln war eher zufällig Premierenstätte geworden, nachdem sich Pläne für Berlin und München zerschlagen hatten. Bartóks Freund und Landsmann Eugen (Jenő) Szenkar, Chef der Kölner Oper, bot der neuen Partitur eine Heimat. Wie überfallartig gleich die ersten Takte auf das Publikum gewirkt haben müssen, lässt sich noch heute nachempfinden: Die rotierenden Läufe der zweiten Violinen und das dissonant schrillende Akkordstampfen der Bläser hatte so gar nichts von der vornehmen Zartheit üblicher Ballettmusiken an sich. Auch wird der Titel wohl falsche Erwartungen geweckt haben, suggeriert er doch einen exotischen Potentaten in Märchenoptik. Stattdessen zeigt die Pantomine ein mittelloses Mädchen, das von drei Zuhältern zur Prostitution gezwungen wird mit dem Ziel, ihre Freier auszurauben – eine Geschichte von radikaler Großstadthässlichkeit. Das »Kaschemmen- und Dirnenstück« traf auf sittliche Entrüstung am Rhein, als »pervers, trivial, krankhaft« wurde auch die Musik geschmäht, und als Bartók vor den Vorhang trat, traf ihn ein Buhsturm. Oberbürgermeister Konrad Adenauer ließ den Mandarin sofort absetzen. In Ungarn kam es zu Bartóks Lebzeiten zu keiner einzigen Aufführung. Um die Komposition wenigstens für den Konzertsaal zu retten, arbeitete er das Ballett 1927 zu einer gekürzten Suite um.
Die grelle expressionistische Härte der Mandarin-Musik wurde bereits 1918 komponiert, unmittelbar nach dem Zusammenbruch der von Bartók verachteten Donaumonarchie. Wie unfassbar schnell sich auf den Trümmern der alten zerbrochenen Werteordnungen die fieberhafte Metropolenmoderne ausbreitete, scheint der Wunderbare Mandarin vorwegzunehmen. Eine entfesselte Sexualität ist hier zu erleben, im Spannungsfeld von Libertinage und Brutalität, Verlockung und Aggression. Auch die weiteren neuen Themen der Kunst zeigt das Stück schonungslos: materielle Not, Korruption und Kriminalität. Und doch enthält Menyhért Lengyels Libretto noch Reste romantischer Erlösungsmetaphorik. Zwei Freier scheitern: Ein alter Dandy hat kein Geld, ein Jüngling ist zu schüchtern. Der dritte Freier, der unheimliche Mandarin, entflammt nach einem Verführungstanz des Mädchens in ekstatischer Begierde. Die Zuhälter versuchen vergeblich, ihn zu ermorden. Mit einer wilden Verfolgungsjagd endet die Suite. Im Ballett sucht der Mandarin am Ende selbst den Tod, was erst möglich wird, als die junge Frau ihn umarmt.
Bartóks lodernde Musik kleidet die Leidenschaften in rhythmische Spannkraft und koloristische Extreme der Instrumentation. Der grandiose Auftritt des Mandarins mit seinem »Erkennungsintervall«, der kleinen Terz, und den harschen Dissonanzen im erregten Tremolo des ganzen Orchesters setzt das erste Ausrufezeichen für die gestische Kraft des Musiktheatralikers Bartók. Doch Der wunderbare Mandarin blieb sein letztes Bühnenwerk. Wäre er diesen Weg weitergegangen, wenn seine Tanzpantomime eine günstigere Aufnahme in Köln gefunden hätte?