Von: Oliver Hilmes
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Orgel
Orgel | Bild: Heribert Schindler

Sie ist nicht nur ein akustisches, sondern auch ein optisches Wunderwerk: die Orgel der Philharmonie Berlin. Expressiv und elegant greift ihr Design die Architektur des Raumes auf, ihre mehr als 6500 Pfeifen ermöglichen eine unendliche Palette an Klangfarben. Seit über 60 Jahren thront die Orgel nun im Großen Saal der Philharmonie. Eine Erfolgsgeschichte mit Hindernissen.

Als der österreichische Organist Anton Heiller am 16. November 1965 in die Tasten griff und die ersten Töne der neuen Orgel der Philharmonie Berlin zu hören waren, fiel Karl Schuke ein Stein vom Herzen. Das Instrument klang hervorragend und mischte sich gut mit den Berliner Philharmonikern, die an jenem Dienstag die musikalische Taufe vornahmen. Auf dem Programm stand Paul Hindemiths Konzert für Orgel und Orchester – ein halbstündiges Spätwerk, dessen Berliner Erstaufführung das Orchester nun unter der Leitung von Joseph Keilberth bestritt. Doch der Weg zu dieser erfolgreichen Orgelweihe war mühsam, und für den 59-jährigen Chef der Berliner Orgelwerkstatt Schuke wohl auch traumatisch. 

Karl Schukes Gegenspieler war Hans Scharoun, der Architekt der Philharmonie. Er hatte der Orgel einen Platz zugewiesen, der sich zwar gut in die revolutionäre Architektur des Saals einfügte, sich akustisch indes als ungünstig herausstellte. Das Instrument stehe zu weit oben und sei vom Orchesterpodium weit entfernt, so Schuke. An dieser Stelle hätte Herbert von Karajan ein Machtwort sprechen können, doch von ihm hatte Schuke keine Unterstützung zu erwarten: Der Maestro interessierte sich nicht für die Königin der Instrumente, wie einst Wolfgang Amadeus Mozart sie betitelte. 

»Die Orgel macht mir so viel Kummer«

Noch im September 1963 hatte Schuke dem Kirchenmusiker Wolfgang Reimann – Vater des Komponisten Aribert Reimann – sein Leid geklagt: »Die Orgel macht mir so viel Kummer, wie ich mein Leben lang noch nicht gehabt habe, und es ist nicht einfach, die architektonischen Vorstellungen des Herrn Scharoun mit den Notwendigkeiten einer Orgel in Einklang zu bringen.«

Karl Schuke und Hans Scharoun verständigten sich schließlich auf eine zweiteilige Orgelanlage: hoch oben die für alle sichtbare große Hauptorgel, unten auf dem Podium die kleinere Chororgel, deren Pfeifen sich links und rechts des Chorpodiums hinter mit Marmor verkleideten Jalousieschwellern befinden – sichtbar nur, wenn die Lamellen beim Spielen geöffnet werden. Diese kleinere Orgel dient als Klangbrücke zwischen dem musikalischen Geschehen auf dem Podium und der Hauptorgel. 

Als Hypothek erwies sich von Anfang an das sprichwörtliche Durcheinander der zuständigen Berliner Behörden, die den Auftrag zum Bau der Orgel so spät an Schuke vergeben hatten, dass die Fertigstellung eines so großen Instruments bis zur Eröffnung der Philharmonie im Oktober 1963 ausgeschlossen war. Um den schönen Schein zu wahren, installierte man zwar die rund 60 sichtbaren großen Pfeifen der Hauptorgel, doch die restlichen über 6000 Pfeifen konnten erst im Herbst 1965 eingebaut werden. So schmückte in den ersten zwei Jahren also eine Orgelattrappe die neuerrichtete Philharmonie. 

Stimmung der Orgel der Philharmonie Berlin

In diesem Video nimmt ein Orgelbauer uns mit in das Innere der Orgel und zeigt, wie sie gestimmt wird.

Ein Schattendasein

»Ich habe gewiss Verständnis dafür, dass die Orgel nicht eine so individuelle Einweihung erfahren hat, wie wir das normalerweise in der Kirche gewöhnt sind«, schrieb Karl Schuke im Januar 1966 an einen Bekannten. »Ein Philharmonisches Orchester betrachtet nun einmal eine Orgel aus einer anderen Perspektive als die Orgelwelt.« Das war diplomatisch formuliert, in Wahrheit aber wusste Wolfgang Stresemann, der Intendant der Philharmoniker, mit dem neuen und überaus wertvollen Instrument nicht viel anzufangen. Bis zum nächsten philharmonischen Einsatz der Orgel sollten über zwei Jahre vergehen: im Mai 1968 dirigierte Eugen Jochum die Toccata Festiva für Orgel und Orchester des amerikanischen Komponisten Samuel Barber. 

Es war die Berliner Konzertdirektion Adler, die wenige Wochen nach dem Hindemith-Konzert im Januar 1966 den ersten solistischen Orgelabend mit Helmut Walcha veranstaltete. Der 58-jährige blinde Musiker war als Bach-Interpret weltberühmt, und seine Gesamteinspielung der Orgelwerke des Leipziger Thomaskantors galt nicht wenigen als Nonplusultra. Dass die Philharmonie allerdings bis auf den letzten Platz ausverkauft war, überraschte selbst die Veranstalter. Walcha kam fortan zu Beginn eines jeden Jahres nach Berlin und faszinierte das Publikum mit seinem Bach-Spiel. Nachdem er im Februar 1970 zum fünften Mal an der Orgel der Philharmonie konzertiert hatte, erschien im Tagesspiegel eine Kritik, in der dem Interpreten vorgeworfen wurde, »kahl, museal und trocken« zu spielen.

Wolfgang Burde, der Autor jenes Verrisses, war Professor für Musikwissenschaft und galt als Fachmann für die Musik des 20. Jahrhunderts, als Barockexperte war er bislang nicht in Erscheinung getreten. Eine Welle der Empörung schwappte durch das Feuilleton. Burde habe von Bach keine Ahnung, ereiferte sich ein Walcha-Verehrer in einem Leserbrief: »Um weitere Blamagen für den Tagesspiegel zu vermeiden, wäre der Redaktion zu empfehlen, Kritiker Ihrer Einstellung und Ihres Könnens zu Udo Jürgens oder ähnlichen Schnulzenkonzerten zu beordern.« Ein anderer Leser bat inständig darum, dass Walcha die Tradition seiner jährlichen Orgelkonzerte fortsetzen möge. Doch es kam anders und Helmut Walcha kehrte nicht mehr in die Philharmonie zurück. 

Ab Dezember 1971 wurde die Orgelreihe der Konzertdirektion Adler von Karl Richter fortgesetzt. Der 45-jährige Richter war ebenfalls ein angesehener Bach-Interpret, galt aber als Antipode zu Helmut Walcha. Richters Spiel war extrovertierter und subjektiver als das seines älteren Kollegen, und er bot seinem Publikum eine veritable Show. Bei virtuosen Pedalsoli riss er schon mal die Arme in die Höhe, als wollte er dokumentieren, dass er soeben wirklich nur mit den Füßen spielte. Nach Richters viertem Konzert im März 1978 endete auch diese Reihe – und die Orgel der Philharmonie sank zusehends in einen Dornröschenschlaf.

Orgelmatineen

Notwendige Wartungsarbeiten und Investitionen unterblieben, sodass das Instrument sich Anfang der 1980er-Jahre in einem desolaten technischen Zustand befand. Als Herbert von Karajan und die Berliner Philharmoniker im September 1981 Camille Saint-Saëns’ Dritte Symphonie – die berühmte »Orgel-Symphonie« – für die Deutsche Grammophon einspielten, ließ der Maestro kurzerhand die Orgel der Pariser Kathedrale Notre-Dame aufnehmen und über den Orchesterklang legen. 

Erst nachdem der SFB 1984 den zunehmenden Verfall der Orgel mit einem Beitrag unter dem Titel »Die stumme Königin« zur besten Sendezeit in der Abendschau zum Thema gemacht hatte, reagierten die Verantwortlichen. Man ließ nun zwar die nötigsten Reparaturen an der mittlerweile 20 Jahre alten Anlage vornehmen, doch musikalisch fristete die Orgel auch weiterhin nur eine Randexistenz.

Das änderte sich erst im Jahr 2008, als Ulrich Eckhardt, der langjährige Chef der Berliner Festspiele, die damalige Philharmoniker-Intendantin Pamela Rosenberg von seiner Idee überzeugte, regelmäßig Orgelmatineen in der Philharmonie zu veranstalten, sonntags um 11 Uhr. Seither geben sich die bedeutendsten Organistinnen und Organisten unserer Zeit die Klinke in die Hand, darunter Jean Guillou, Dame Gillian Weir, Wolfgang Rübsam, Olivier Latry, Cameron Carpenter, Els Biesemans, Zuzana Ferjenčíková und Ton Koopman. Diese Matineen erfreuen sich großer Beliebtheit und werden in der Regel von 1000 Personen und mehr besucht. Häufig gesellen sich auch Musiker der Berliner Philharmoniker hinzu.

In den zurückliegenden Jahren wurde die Orgelanlage dank der großzügigen Unterstützung seitens der Freunde der Berliner Philharmoniker e. V. grundlegend renoviert, technisch erneuert und zugleich behutsam klanglich modernisiert. Zahlreiche romantische Klangfarben, die im Orgelbau der 1960er-Jahre oftmals verpönt waren und auch in der Philharmonie-Orgel zunächst fehlten, wurden ergänzt. 

11 Millimeter bis 10 Meter große Pfeifen

Viele Klangfarben der 92 Register sind dem Orchester entliehen. Es gibt Flöten, Oboen und Klarinetten, Trompeten, Posaunen und Tuben, Streicher und sogenannte gemischte Stimmen, die dem hohen Klang einer Piccoloflöte ähneln. Andere Register tragen so poetische Namen wie Doppelflöte, Voix céleste oder Zartbass. Die längste Pfeife ist etwa 10 Meter lang, wiegt 300 Kilogramm und erzeugt einen Ton mit 16 Schwingungen pro Sekunde. Die kürzeste Pfeife misst knapp 11 Millimeter und bringt einen Ton mit 15 600 Schwingungen pro Sekunde hervor. 

Die meisten Register sind den Manualen zugeordnet, die tiefen Töne werden mit den Füßen auf der Pedalklaviatur gespielt. Da der Organist die Klänge auf jedem der vier Manuale und dem Pedal individuell einstellen und mittels modernster Computertechnik in Sekundenschnelle abrufen kann – dieser Vorgang wird »Registrieren« genannt –, vermag die Philharmonie-Orgel einen wahren Klangzauber zu erzeugen. Mal klingt sie kammermusikalisch wie ein Streichquartett oder ätherisch wie eine Harfe, dann wieder erinnert sie an den Sound eines Blechbläserensembles. Zieht man alle Register der Orgel, wird es sehr laut und die Klänge rauschen nur so durch den Saal. Vor allem aber dank der Schönheit und Vielfalt ihres Klangs gehört die Orgel der Philharmonie Berlin 60 Jahre nach ihrer Einweihung zu den bedeutendsten Konzertsaalorgeln der Welt. Und wohl niemand, der regelmäßig in der Philharmonie zu Gast ist, kann sich diesen Raum ohne dieses einzigartige Instrument vorstellen.