Hitlers Machtergreifung 1933 bedeutete für Jüdinnen und Juden eine sich schrittweise ereignende Katastrophe. Zunehmend wurden ihnen Bürgerrechte entzogen, systematisch entfernten die Machthaber sie aus öffentlichen Ämtern. Auch vier Musiker der Berliner Philharmoniker verließen unter dem Druck des Regimes das Orchester. Sie gaben ihre bisherige Existenz auf und nahmen den schweren Weg der Emigration auf sich. Ab dem 10. Mai erinnern vier Stolpersteine vor der Philharmonie Berlin an sie. Wir stellen Ihnen die Musiker und ihre Schicksale vor.
geb. 1. Juni 1909 in Włocławek (Polen), gest. am 19. Juli 1993 in Toyama (Japan) Orchestermitglied seit 1930
Emigration: 1934
Von einem jungen Geiger, den man im Blick behalten müsse, schwärmte die Zeitschrift Signale für die musikalische Welt 1924 nach dem Debüt Szymon Goldbergs bei den Berliner Philharmonikern. Der damals 15-jährige Musiker stellte sich unter der Leitung seines Lehrers Carl Flesch erstmals dem Berliner Publikum vor – mit einem anspruchsvollen Programm, das Violinkonzerte von Joseph Joachim, Johann Sebastian Bach und Niccolò Paganini umfasste. Flesch, selbst ein herausragender Geiger und Violinpädagoge, hatte den jungen Polen wegen seiner enormen Begabung kostenfrei unterrichtet. Im folgenden Jahr war der Teenager bereits Konzertmeister der Dresdner Philharmonie und Primarius des Simon-Goldberg-Quartetts. 1930 holte ihn Wilhelm Furtwängler in gleicher Position zu den Berliner Philharmonikern, mit denen Szymon Goldberg auch als Solist auftrat, unter anderem mit Beethovens Violinkonzert. Ein Kritiker lobte die »schlichte Innigkeit und Beseelung seines Spiels, die Reife der geistigen und technischen Beherrschung.« Außerdem war er Primarius des Philharmonischen Streichquartetts.
Nach Hitlers Machtergreifung erkannte der Musiker schnell die Zeichen der Zeit. »Als Volljude und Pole war ich mir bewusst, dass ich in Deutschland unter Hitler nichts Gutes zu erwarten hätte, und ergriff meinerseits die Initiative, um meinen Vertrag mit den Berliner Philharmonikern zu lösen«, schrieb er rückblickend 1955. Goldberg und seine Frau gingen zunächst in die Schweiz, später nach Holland. Im April 1940 erlebte er während einer Konzerttournee durch Niederländisch-Indien (Indonesien) die japanische Besetzung. Japan, als Verbündeter Deutschlands, verfolgte ebenfalls Juden und internierte das Ehepaar Goldberg in verschiedenen Gefängnissen und Lagern. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs und ihrer Freilassung gingen der Geiger und seine Frau in die USA, wo Szymon Goldberg nicht nur sehr erfolgreich als Instrumentalist, sondern auch als Dirigent und Lehrer wirkte, unter anderem an der New Yorker Juilliard School und dem Curtis Institute of Music. Zudem arbeitete er intensiv mit dem Israel Philharmonic Orchestra zusammen. Sein Wunsch, erneut Mitglied der Berliner Philharmoniker zu werden, wurde vom damaligen Intendanten des Orchesters zurückgewiesen. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete Goldberg 1988 die Pianistin Miyoko Yamane, mit der er sich 1992 in Japan niederließ. Dort starb er im folgenden Jahr.
geb. 10. Januar 1902 in Plowdiw (Bulgarien), gest. 11. Dezember 1967 in Wien
Orchestermitglied seit 1925
Emigration: 1935
Er war der letzte der vier jüdischen Musiker, die das Orchester verließen: Der in Bulgarien geborene Geiger Gilbert Back, der in Wien und Berlin studiert hatte, gehörte seit 1925 zu den Ersten Violinen der Berliner Philharmoniker. Nachdem seine drei jüdischen Kollegen bereits emigriert waren, wurde der Druck des Propagandaministeriums auf ihn immer größer. Die Geschäftsführer des Orchesters versuchten sich für ihn einzusetzen und berichteten an die Behörden: »Politisch ist er, auch in der Systemzeit, nie hervorgetreten, gehörte auch keiner politischen Partei an. Sein Vater hat die erste jüdische Schule in Sofia gegründet, sein Bruder stand als Offizier im österreichischen Heer während des Weltkrieges und ist mit der österreichischen Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet worden. […] Back ist österreichischer Staatsangehöriger.« Doch im Propagandaministerium interessierte das alles nicht – Back musste das Orchester verlassen.
Gilbert Back emigrierte nach Ankara, wo er einer der ersten Dozenten des Staatlichen Konservatoriums und Mitglied des Präsidentenorchesters wurde. 1946 ging er mit seiner Frau in die USA und ließ sich 1947 in Los Angeles nieder, wo er Mitglied des Philharmonischen Orchesters wurde. Außerdem war er Dozent an der Hochschule in San Diego. Nach seiner Scheidung 1966 beging Gilbert Back 1967 in Wien Selbstmord.
geb. 5. September 1896 in Libau/Liepaja (Lettland), gest. 9. August 1964 in Moskau
Orchestermitglied seit 1926
Emigration: 1935
Nicolai Graudan verfügte laut Presseberichten über einen »warmblütigen Celloton« und eine »ausgereifte Technik«. Als er 1926 zu den Berliner Philharmonikern kam, besaß der aus Lettland stammende Musiker, der in St. Petersburg studiert hatte, bereits mehrjährige Orchestererfahrung als Solocellist in St. Petersburg, Riga und Düsseldorf. Außerdem war er Professor am Petersburger Konservatorium gewesen. Als Solist hatte er einen Sondervertrag mit dem Orchester – weniger Pflichten, dafür Freiraum für eigene Auftritte. Er spielte oft in Berlin, konzertierte im In- und Ausland und machte Kammermusik mit Szymon Goldberg, Paul Hindemith und Rudolf Serkin. Trotz der Machtergreifung wurde sein Vertrag 1935 verlängert, allerdings zu schlechteren Bedingungen.
Daraufhin kündigte Graudan und ging mit seiner Frau zunächst nach London und 1938 in die USA. Dort war er von 1939 bis 1944 Solocellist des Minneapolis Symphony Orchestra. Ab 1945 trat er gemeinsam mit seiner Frau, einer Pianistin, erfolgreich als Konzertduo auf. Außerdem spielten sie mit seinem ehemaligen Kollegen Szymon Goldberg im Trio. Daneben lehrte Nicolai Graudan am Aspen Festival und der Music Academy Santa Barbara. Er starb 1964 in einem Moskauer Krankenhaus während einer Konzertreise in der Sowjetunion.
geb. 23. Mai 1903 in Istanbul, gest. 16. Februar 1969 in Los Angeles
Orchestermitglied seit 1929
Emigration: 1934
Joseph Schuster übernahm 1929 von Gregor Piatigorsky die Stelle des Solocellisten bei den Berliner Philharmonikern – und war mit 25 Jahren der bislang jüngste Musiker, der diese Position innehatte. In Istanbul geboren und in St. Petersburg aufgewachsen, hatte der Musiker zuvor am Petersburger Konservatorium und an der Berliner Musikhochschule studiert. Nach seiner Emigration in die USA 1934 war Joseph Schuster bis 1944 Solocellist beim New York Philharmonic. Anschließend zog er nach Kalifornien und widmete sich erfolgreich seiner Solokarriere. Er war der einzige der vier Musiker, der später als Solist mit den Berliner Philharmonikern auftrat: Am 21. September 1963 spielte er das Cellokonzert von Antonín Dvořák. 1969 starb er in Los Angeles.
Das »Reichsorchester«
Die Berliner Philharmoniker in der NS-Zeit
Vor dem Absturz
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