Wenn die Berliner Philharmoniker und Kirill Petrenko in diesem November nach China reisen, werden sie auf eine pulsierende Klassik-Szene treffen. Ganz anders war es, als das Orchester 1979 unter Leitung von Herbert von Karajan zum ersten Mal in Peking auftrat. Ein Rückblick.
In keinem anderen Land hat sich der Stellenwert der klassischen Musik in den letzten Jahrzehnten so grundlegend gewandelt wie in der Volksrepublik China. Spektakuläre Konzertsäle berühmter Architekten ermöglichen nicht nur Gastspiele internationaler Orchester, sie sind auch ein sichtbares Signal für die hohe Wertschätzung, die man den Werken von Beethoven, Brahms und Co. entgegenbringt. Das war vor einem halben Jahrhundert noch völlig anders. Im Zuge der Kulturrevolution hatte Staatspräsident Mao Zedong westliche Musik verboten, sodass die großen europäischen Komponisten gewissermaßen als Staatsfeinde galten. Ein klassisches Konzert, wie es in Japan längst zum Alltag gehörte, war damals ein Ding der Unmöglichkeit.
Vor diesem Hintergrund ist kaum zu überschätzen, welchen Einschnitt die erste China-Reise der Berliner Philharmoniker 1979 bedeutete. Drei Jahre nach Maos Tod war dies ein vorsichtiges Anzeichen der kulturellen Öffnung des Landes. Die Komponisten der Klassik waren mittlerweile rehabilitiert, und so konnte Chefdirigent Herbert von Karajan in drei Konzerten in Peking einen Querschnitt durch sein Kernrepertoire präsentieren: mit Beethovens Symphonien Nr. 4 und 7, je einer Symphonie von Mozart, Brahms und Dvořák sowie Mussorgskys Bildern einer Ausstellung. Einzig das letztere Werk stand vorübergehend zur Disposition, als den chinesischen Organisatoren bewusst wurde, dass Mussorgsky aus dem ideologisch verfeindeten Russland stammte.
Insgesamt war dies eine Annäherung mit Hindernissen. Schon die Ankunft auf dem Flughafen von Peking erschien als schlechtes Omen, als wegen eines Defekts der Gangway zwei Musiker sechs Meter tief auf den Beton stürzen und mit Knochenbrüchen ins Krankenhaus gebracht werden mussten. Zudem gab es in der Stadt keinen passenden Konzertsaal, weshalb das Orchester in einer akustisch ungeeigneten Sporthalle gastierte. Eine weitere Herausforderung war für die Musiker die vollbesetzte Generalprobe. Das Publikum, mit den Ritualen des westlichen Konzertbetriebs nicht vertraut, unterhielt sich während der Musik, aß und lief in der Halle umher, sodass Karajan drohte, die Öffentlichkeit von der Probe auszuschließen.
Die eigentlichen Konzerte vor je über 4000 Besuchern waren dann ein voller Erfolg, zumal Broschüren und Lautsprecherdurchsagen ein einwandfreies Verhalten des Publikums anmahnten. Dieses bestand zwar zu einem Großteil aus handverlesenen Arbeitern und Funktionären, aber es gab auch echte Fans, die müde und verstaubt aus der Provinz angereist kamen und stundenlang nach den eigentlich unerschwinglichen Karten anstanden. Am Ende jedes Konzerts stand großer Jubel. Zu einem emotionalen Höhepunkt kam es, als beim zweiten Konzert Mitglieder der Berliner Philharmoniker und des Philharmonischen Zentralorchesters Peking gemeinsam unter Karajans Leitung Beethovens Siebte Symphonie spielten. Ob er sich vorstellen könne, einmal eine Oper in China zu dirigieren, fragte eine Journalistin den tief bewegten Karajan, vielleicht Turandot im Kaiserpalast? »Das muss man sehen«, so der Maestro, »das muss Blüten tragen.« Indessen sollte er nie mehr nach China zurückkehren, und auch die Berliner Philharmoniker machten sich erst im Jahr 2005 zu ihrem zweiten Gastspiel auf.
Damals unternahm das Orchester unter Leitung von Simon Rattle seine erste umfangreiche Asien-Tournee, mit Konzerten in Peking, Seoul, Shanghai, Hongkong, Taipeh und Tokio. Bei den Gastspielen in China war unübersehbar, dass der Konzertbesuch mittlerweile als unverzichtbarerer Bestandteil eines kultivierten Lebensstils galt. Der neue Stellenwert der klassischen Musik verdankte sich nicht zuletzt der Weltkarriere des Pianisten Lang Lang. Seinem Vorbild folgend, drängte ein Millionenheer von Nachwuchspianist*innen in die Musikschulen. Simon Rattle zeigte sich auf einer Pressekonferenz in Peking von dieser Entwicklung äußerst angetan: »Wahrscheinlich ist Lang Lang nur die Spitze eines Eisbergs, der auf uns zukommt«, so Rattle, »aber für die Entwicklung der westlichen klassischen Musik kann das nur gut sein. Jeder neue Einfluss hält die Kunst lebendig.«
Und dann sind da noch die eingangs erwähnten Konzertsäle: architektonische und akustische Meisterleistungen, die man heute in fast jeder chinesischen Großstadt findet. Die Berliner Philharmoniker sind schon in vielen dieser Säle aufgetreten, etwa 2005 im Shanghai Oriental Art Center, das erst kurz zuvor eröffnet worden war und auch bei der aktuellen Tournee mit Kirill Petrenko auf dem Reiseplan steht. Ebenso gibt es in Peking und Hong Kong exzellente Säle, in denen das Orchester immer wieder zu Gast ist. Darüber hinaus sind die Berliner Philharmoniker auch in Städte gereist, die im Westen trotz ihrer gigantischen Größe erstaunlich wenig bekannt sind: nach Guangzhou (16 Mio. Einwohner), Wuhan (8 Mio.), Shenzhen (18 Mio.) und Xi’an (13 Mio.) – alles überwältigend dynamische Metropolen, die einem reisenden Orchester beste Aufführungsmöglichkeiten bieten.
Mindestens so beeindruckend wie die chinesischen Städte und Konzertsäle ist die Entwicklung der chinesischen Musikszene. Vor allem zahlreiche Pianistinnen und Pianisten haben international Karriere gemacht – neben Lang Lang ist besonders Yuja Wang zu erwähnen, die als Solistin die Berliner Philharmoniker auf ihrer letzten China-Tour 2024 begleitet hat. Und auch die chinesischen Orchester erreichen heute ein Spitzenniveau, weshalb etwa das Shanghai Symphony Orchestra oder das Hong Kong Philharmonic Orchestra immer öfter in europäischen und nordamerikanischen Musikzentren zu erleben sind. Von dieser Entwicklung haben die Berliner Philharmoniker in jüngster Vergangenheit unmittelbar profitiert: 2022 wurde Diyang Mei 1. Solobratscher und damit das erste chinesische Mitglied des Orchesters, 2024 folgte Yun Zeng als Solohornist. Die Annäherung zwischen den Berliner Philharmonikern und China hat damit eine neue Dimension erreicht – aus dem wechselseitigen Bestaunen der Karajan-Zeit ist ein Austausch auf Augenhöhe geworden.