Von: Tobias Möller
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Cellist und Reiseleiter Nikolaus Römisch mit Andrea Zietzschmann, Intendantin der Stiftung Berliner Philharmoniker. | Bild: Stephan Rabold

Eine Konzertreise der Berliner Philharmoniker ist nicht nur ein spannendes künstlerisches Projekt, sondern auch eine organisatorische Herausforderung ersten Ranges. Wie schafft man es, dass die Musikerinnen und Musiker ausgeruht am Ziel ankommen? Und wie vermeidet man einen Lagerkoller? Darüber haben wir mit Nikolaus Römisch gesprochen, Cellist und Reiseleiter des Orchesters.

Herr Römisch, wenn die Berliner Philharmoniker auf Tournee gehen, gibt es zur Organisation ein Team im Haus, es gibt einen externen Reiseveranstalter – und es gibt Sie. Warum ist es wichtig, dass ein Mitglied des Orchesters an der Planung mitwirkt?

Die Funktion eines Reiseleiters aus den Reihen der Musikerinnen und Musiker gibt es schon sehr lange. Ich bin die Schnittstelle zwischen dem Orchester und dem Reiseveranstalter, denn wir Orchestermitglieder können natürlich am besten einschätzen, welche Belastungen wir vermeiden müssen, um abends auf der Bühne eine optimale Leistung zu zeigen.

Was muss da entschieden werden? Geht es darum, schnell von A nach B zu kommen, ohne die Orchestermitglieder zu stressen?

Darauf liegt das Hauptaugenmerk. Im Idealfall würden wir an einem Reisetag nie auch noch ein Konzert geben. Aber das ist leider nur selten machbar, allein schon aus finanziellen Gründen. Wenn wir in Salzburg zur Festivalzeit mit 140 Personen anreisen, fallen pro Übernachtung erhebliche Summen an, da reist man eher am Konzerttag an.

Tücken des Kabinendrucks

Wie plant man dann den zeitlichen Ablauf?

Man versucht sich an einer Quadratur des Kreises. Wenn wir etwa nach Salzburg fliegen, möchte man möglichst spät starten, da der Tag mit Reise, Anspielprobe und Konzert bis 22 Uhr geht, also sehr lang ist. Außerdem stehen unsere Hotelzimmer normalerweise erst ab 15 Uhr zur Verfügung. Andererseits müssen wir die tariflich vorgegebenen fünf Stunden Abstand zwischen Ankunft und Konzertbeginn einhalten. Einige Kollegen aus den Bläsergruppen wünschen sich außerdem eine möglichst große Pause zwischen Flug und Konzert, da sich der reduzierte Luftdruck in der Kabine negativ auf die Funktion der Lippen auswirken kann.

Worauf müssen Sie sonst noch achten?

Man muss zum Beispiel an die Versorgungslage vor Ort denken. In den mediterranen Ländern haben am frühen Nachmittag die Geschäfte und Restaurants geschlossen, daher kommt man hier besser früher an – wobei die dann eben skizzierte Gefahr besteht, dass die Hotelzimmer noch nicht fertig sind.

Passiert es, dass Musikerinnen und Musiker unterschiedliche Bedürfnisse haben, die Sie unter einen Hut bringen müssen?

Das kommt schon mal vor. Ich erinnere mich, dass wir 2018 in Taiwan drei Konzerte am Stück gespielt haben, das erste und dritte in Taipeh, das zweite in Kaohsiung im Süden. Das erreicht man von Taipeh aus in circa drei Stunden, daher fanden wir es für das Orchester bequemer, das Hotel nicht zweimal zu wechseln und Anreise, Probe, Konzert und Rückfahrt en bloc zu machen. Dann starten Sie allerdings gegen 13 Uhr im Hotel und sind erst gegen Mitternacht wieder auf dem Zimmer. In diesem Fall konnten einige wenige Kollegen, die sehr exponierte Soli zu spielen hatten, ein Tageszimmer am Konzertort in Anspruch nehmen, um sich vor dem Konzert besser zu erholen. 

Tubist Alexander von Puttkamer am Bahnhof. Wo es geht, wird mit der Bahn gereist.

Die perfekte Ankunftszeit

Welche Ankunftszeit im Konzertsaal ist für Sie am besten?

Grundsätzlich wollen die meisten Bläser circa eine Stunde vor Beginn einer Probe oder eines Konzerts am Saal sein, weil sie mehr Zeit zum Warmspielen brauchen als etwa die Streicher, die gern etwas später kommen. In einer perfekten Konstellation liegt daher der Konzertsaal fußläufig zum Hotel, damit jeder selbst entscheiden kann, wann er sich auf den Weg macht.

Wie hoch ist generell der Reisestress auf Tourneen?

Es ist ja so: Selbst wenn man sechs oder sieben Stunden »nur« im Zug oder im Bus sitzt, ist man abends erstaunlich müde. Es gibt viele Eindrücke zu verarbeiten, man bewegt sich wenig, das Essen ist nicht optimal. Manchen wird im Bus schlecht, dann steht man im Stau und befürchtet, nicht rechtzeitig zum Konzert anzukommen – das ist alles nicht zu unterschätzen.

Reisen hat ja auch eine ökologische Komponente. Wie gehen Sie damit um?

Die ist uns selbstverständlich bewusst. Wo immer es geht, versuchen wir das Fliegen zu vermeiden. Wenn wir früher von Salzburg nach Luzern gereist sind, ging das immer per Flug über Zürich. Inzwischen nehmen wir den Zug, wobei das zweieinhalb Stunden mehr braucht. Solche Lösungen sind bei unserer straffen Planung also leider nicht immer möglich. 

Wenn Sie als Orchester reisen, transportieren Sie auch viele wertvolle Instrumente. Was bedeutet es, wenn eine Geige oder ein Cello dabei einem starken Wechsel von Temperatur und Luftfeuchtigkeit ausgesetzt ist?

Die Temperaturunterschiede sind gar nicht so problematisch, im Gegensatz zur Luftfeuchtigkeit. Wenn unsere Streichinstrumente in ein Flugzeug verladen werden und acht Stunden lang der trockenen Höhenluft ausgesetzt sind, »arbeitet« das Holz, das ist schon herausfordernd. Dagegen gibt es zum Beispiel sogenannte Dampits, das sind mit Schaumstoff gefüllte Schläuche, die man befeuchtet und ins Innere der Instrumente einhängt – das hilft etwas.

Fällt es Ihnen als Musiker eigentlich schwer, das eigene Instrument den Transportkisten des Orchesters anzuvertrauen?

Ich habe in den letzten 25 Jahren nicht erlebt, dass da mal etwas schiefgegangen wäre. Ich empfinde es vor allem als komfortabel, dass ich neben Koffer und Handgepäck nicht auch noch ein Cello durch die Gegend tragen muss – so wie es der Fall ist, wenn wir mit den 12 Cellisten unterwegs sind. Wenn Sie das mal für zwei Wochen mitgemacht haben, sind Sie für die Transportkisten sehr dankbar. Etwas anders ist das zum Beispiel bei den Geigerinnen und Geigern. Da wollen einige immer das Instrument bei sich haben, damit sie sich gleich bei der Ankunft im Hotel einspielen können, ohne auf den Orchestertransport zu warten. Das ist individuell sehr verschieden.

Verbotene Bögen

In historischen Streicherbögen sind oft Materialen verarbeitet, die heute einem Ein- und Ausfuhrverbot unterliegen, vor allem Elfenbein. Wie gehen Sie auf Reisen damit um?

Wir müssen sehr genau dokumentieren, mit welchen Instrumenten wir reisen – eben weil bestimmte Materialen nicht mitgeführt werden dürfen. Das ist aus Gründen des Artenschutzes ja auch völlig richtig. Neben Elfenbein betrifft das auch Schildpatt oder Echsenleder, das man natürlich nicht mehr im Instrumentenbau verwendet. In meinem eigenen Bogen habe ich diese Teile irgendwann ersetzt. Wenn ein Bogen solche Materialien enthält und beim Zoll entdeckt wird, hat man schlechte Karten. Dann wird der Bogen im schlimmsten Fall zerstört. Das kann dann einen Verlust von mehreren 10.000 Euro bedeuten.

Das klingt dramatisch. Was kann sonst noch schiefgehen, wenn ein Orchester auf Reisen geht?

Es kann natürlich immer mal ein Orchestermitglied ausfallen – vielleicht sogar jemand mit einer sehr exponierten Position. Aber zumindest innerhalb Europas kann man fast alle großen Städte zur Not aus Berlin gut erreichen. Auf Interkontinentalreisen dagegen sind wir in so großer Besetzung unterwegs, dass wir normalerweise in den eigenen Reihen einen Einspringer finden.

Wenn man sich alle diese Herausforderungen ansieht – warum reist das Orchester überhaupt? Was macht diese Tourneen so wichtig?

Wir haben als Orchester den Anspruch, mit unseren Interpretationen Maßstäbe zu setzen. Dieser Anspruch ist eine treibende Kraft unserer künstlerischen Arbeit. Daraus folgt eigentlich zwingend, dass wir unser Können nicht nur in Berlin, sondern auch weltweit zeigen. Diese internationale Ausrichtung hat das Orchester schon immer gehabt. Wir kommen damit auch einem Bedürfnis unseres Publikums nach, das sich ja über den ganzen Globus verteilt und uns nicht nur über die Medien, sondern auch live erleben will. Wir sind natürlich froh, dass die Digital Concert Hall unsere Konzerte in alle Welt trägt, aber nur im direkten Kontakt erlebt man diese besondere Energie, die uns als Orchester ausmacht.

Gibt es neben dem kommunikativen Nutzen auch einen künstlerischen?

Wir spielen hier in Berlin in der Regel jedes Programm dreimal – da können wir schon viel probieren: Was funktioniert, was kommt wirklich an? Wenn man dann aber ein Werk zusätzlich fünf oder sechs Mal spielt, erreicht man nochmal ein anderes Level. Im Mai haben wir Mahlers Neunte Symphonie unter der Leitung von Kirill Petrenko gespielt, das war schon toll. Aber als wir das Werk im September mit auf Tournee genommen haben, klang es noch mal gereifter und natürlicher.

Auf Tournee verbringen die Orchestermitglieder sehr viel Zeit zusammen – auf und hinter der Bühne.

Der menschliche Faktor

Wie ist das menschliche Miteinander auf Tournee?

Eine Tournee ist immer auch eine Teambuilding-Maßnahme, gerade wenn wir drei Wochen am Stück unterwegs sind. Es gibt da viele Gespräche, nicht nur über das Künstlerische.  Dann joggt man mal am freien Tag zu dritt um den Kaiserpalast in Tokio oder besucht ein Museum und tauscht sich aus – auch mit Kollegen und Kolleginnen, zu denen man sonst weniger Kontakt hat. Diese weichen Faktoren sind für so ein soziales Gefüge wahnsinnig wichtig.

Entsteht auch mal so etwas wie ein Lagerkoller?

Den versuchen wir zu vermeiden, indem wir zum Beispiel nie länger als drei Wochen auf Reisen gehen. Irgendwann ist sonst die Luft raus. Es hilft auch, dass eine Tournee im Idealfall einer Dramaturgie folgt. Wenn wir nach Asien reisen, bemühen wir uns, am Schluss in Tokio und das letzte Konzert in der Suntory Hall zu spielen. Das setzt noch mal einen belebenden Impuls. Die anderen Säle in Asien sind natürlich auch großartig, aber der Suntory Hall fühlen wir uns besonders verbunden. Schließlich treten wir hier schon seit 1986 auf – das ist wie ein zweites Zuhause, auf das wir uns sehr freuen.

Die Trennung von der Familie ist sicher auch nicht einfach.

Ja, das ist auf jeden Fall eine Belastung, wobei das früher noch deutlich härter war als heute. Vor zwanzig Jahren konnte man nicht eben mal zu Hause anrufen, Videocalls gab es natürlich auch nicht. Als ich 1998 auf meiner erste Asien-Tournee war, waren wir wirklich für drei Wochen raus aus der Welt.

Wie sehen Sie in Ihrer Funktion als Reiseleiter der aktuellen Asien-Tour entgegen?

Wie schon gesagt, ist der Stresslevel für uns ein zentrales Thema. Da ist es für uns eine große Erleichterung, dass wir auf dieser Reise über drei Wochen in nur fünf Hotels absteigen. Das bedeutet: weniger Anreisen, weniger Umsteigen, weniger Ein- und Auschecken. Wir hatten 2020 mal eine Tournee mit fünf Stationen und fünf Konzerten in fünf Tagen: Hamburg, Hannover, Köln, Frankfurt, Dresden. Das war sehr anstrengend.

Gibt es etwas auf dieser Tournee, worauf Sie sich persönlich besonders freuen?

Es hat sich ergeben, dass das Concertgebouw Orchestra gleichzeitig mit uns in Seoul und in Tokio gastiert. Auf die Begegnung mit den Kolleginnen und Kollegen freue ich mich sehr. Aber am wichtigsten sind für mich natürlich die Konzerte – auf die kann man sich auf Reisen noch einmal anders konzentrieren als zu Hause. Man ist einfach aus dem Alltag herausgelöst, muss nicht einkaufen und nicht Wäsche waschen. Es geht wirklich nur um die Musik.