Karajan war ein Machtmensch. Umso weniger konnte er es verkraften, als sich das Orchester 1982 auf seine ureigensten Rechte besann und dem Wunsch des Maestros, die Klarinettistin Sabine Meyer ins Probejahr zu berufen, nicht Folge leisten wollte. Ja schlimmer noch: Als er mit Drohmaßnahmen, darunter die Absage von Fernsehproduktionen, den Willen der Musiker zu brechen suchte, weigerten sich die Philharmoniker ihrerseits, unter Karajan in Salzburg und Luzern aufzutreten, und kündigten die Medienverträge. Gewiss hat ihn dieser Widerstand, der mit seinem absolutistischen Selbstverständnis so gar nicht vereinbar war, tief verstört. Doch glaubte er bis zuletzt, das Heft in der Hand zu haben. Als er am 24. April 1989, drei Monate vor seinem Tod, seinen Rücktritt als Chefdirigent einreichte, ging es ihm vermutlich darum, seine strittigen Forderungen nach mehr Machtfülle durchzusetzen. Dass aber seine Demission angenommen wurde und keiner versuchte, ihn zur Umkehr zu bewegen – das muss für ihn die größte Niederlage gewesen sein.
Für nachschöpfende Musiker gilt in der Regel Friedrich Schillers Befund: »Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze.« Herbert von Karajan aber hat dieses Gesetz durchbrochen, wie sein Nachfolger Sir Simon Rattle betont: »Wenn Karajan in der Stadt war, musste das gesamte Orchester, jeder einzelne Musiker, auch da sein. Immer wieder hat er mit ihnen an denselben Stücken gearbeitet und die gemeinsamen Interpretationen als einen Prozess begriffen, der sich über Jahre hinziehen konnte. Aber genau dadurch erreichte er nicht nur eine Homogenität, die es so noch nie gegeben hatte, sondern er prägte auch die unverwechselbare Persönlichkeit des Orchesters aus. Davon profitieren wir bis heute, obwohl es mittlerweile nur noch wenige Philharmoniker gibt, die selbst unter Karajan gespielt haben.« Und noch eines weiß Rattle: »Einen zweiten Herbert von Karajan wird und kann es nicht mehr geben.« Wer wollte ihm da widersprechen?
Hatte er sich nicht immer zugutegehalten, am Puls der Zeit zu leben und die Zukunft hellsichtig zu antizipieren, nicht zuletzt was die Entwicklungen der Technik und des Marktes anging? Schon früh erkannte Karajan die Chancen der Bildtonträger: 1965 entstanden seine ersten Musikfilme; 1966 gründete er gemeinsam mit dem Filmmogul Leo Kirch die Firma Cosmotel, die mehrere seiner Operninszenierungen auf Zelluloid bannte; und ab 1982 war es sein Unternehmen Telemondial, das Karajans Wirken auf Laserdisc verewigte. Als sein eigener Regisseur setzte er sich dabei selbst ins rechte Licht, weshalb die Aufnahmen nicht im Konzert entstanden, sondern unter Studiobedingungen nachgestellt wurden. Penibel achtete Karajan darauf, dass auch die Visualisierung seinem Schönheitsideal gerecht würde, und arrangierte die Musiker auf seiner virtuellen Filmbühne so, wie es live gar nicht möglich gewesen wäre: mit Dutzenden Geigern, postiert in Reih und Glied, die ihre Bögen allesamt und immer exakt parallel zu führen hatten. Der Meister selbst wiederum zelebrierte dann seine Dirigierkunst eigens für die Kamera, zum eingespielten Soundtrack … Man kann diese Vorgehensweise als Schauspielerei oder Verfälschung abtun, und doch entfaltet die künstliche Überästhetisierung dieser Aufnahmen bis heute eine eigenartige Anziehungskraft.
Eine hochkonzentrierte und explosive Mischung aus künstlerischer Vision und persönlichem Ehrgeiz, Machtinstinkt und Kompromisslosigkeit in allen musikalischen und ästhetischen Fragen war der feurige Cocktail, der Karajans Leben antrieb. Die Berliner Philharmoniker, die er 34 Jahre lang, von 1955 bis 1989, als Chef leitete, waren in erster Linie Nutznießer dieser ambivalenten Charakterzüge. Für Karajan stand fest, dass ein Orchester, dem er seinen Prägestempel aufdrückte, das beste überhaupt sein müsse. Also formte er die Philharmoniker nach seinem Willen, verwirklichte mit ihnen ein Klangbild, wie er es sich stets erträumt hatte: transparent, homogen und akkurat austariert zwischen den verschiedenen Instrumentengruppen. Es war eine grandiose Feier des Schönklangs und der Perfektion. Hört man Livemitschnitte aus den frühen sechziger Jahren, verblüfft noch heute der hohe Standard, mit dem damals musiziert wurde. Die Feinjustierung des Zusammenspiels ist atemberaubend, kein Ballast, keine Schärfen, keine Reibungen belasten die Interpretation, die mit flüssigen Tempi und einem auf die melodische Linie gerichteten Duktus aufwartet. Alles atmet einen Geist, eins ergibt sich organisch aus dem andern.
Nicht zu unterschätzen sind Karajans kulturpolitische Verdienste: Ohne ihn wäre wohl kaum Hans Scharouns visionäre Philharmonie erbaut worden. Nachdem Scharouns Konzept schon fast den Ränkespielen der Lokalpolitik zum Opfer gefallen war, wurde Karajan beim Regierenden Bürgermeister Willy Brandt vorstellig und erwirkte den Befreiungsschlag. Ohne Karajan hätte es nie die Salzburger Osterfestspiele und keinen Opernruhm für die Berliner Philharmoniker gegeben; auf eigenes unternehmerisches Risiko, ohne jeden Pfennig Subvention, begründete er 1967 in seiner Heimatstadt das Festival, das er ausgerechnet mit dem Ring des Nibelungen eröffnete, dem aufwändigsten und kostspieligsten Opernprojekt überhaupt. Und dabei kreierte er obendrein ein neues Wagner-Ideal von fast kammermusikalischer Transparenz, das selbst Skeptiker in Wagnerianer verwandelte. Ohne Karajans Fürsprache schließlich wäre das bis heute gültige Besoldungsmodell der Philharmoniker sicher nicht in Kraft getreten.
Was manchem wie schiere Hexerei des Klangmagiers Karajan vorkam, war in Wirklichkeit das Ergebnis intensiver Probenarbeit. Immer wieder wurde selbst an bekannten Werken gefeilt, jede Nuance ausgelotet, die Phrasierung und Artikulation zwischen den Streichern und den Bläsersolisten subtil abgestimmt, bis jeder absolut auf sich selbst vertrauen konnte, auch wenn der »Meister«, wie Karajan genannt wurde, im Konzert die Augen schloss und sich in Trance versenkte. Karajans Ambition richtete sich nicht allein auf eine maßstäbliche Aufführung des Standardrepertoires, nein, er arbeitete geradezu besessen auch an Werken der Zweiten Wiener Schule, die er selbst dann auf den Probenplan setzte, wenn sie gar nicht auf dem Programm der Konzerte standen. Sogar Adorno konnte nicht umhin, in seiner Einleitung zur Musiksoziologie die Webern-Interpretationen der Berliner und ihres Chefs zu loben, wobei er allerdings darauf verzichtete, den Namen des Dirigenten zu nennen: Den Erfolgsmenschen Karajan zu rühmen, der es sogar zu Prominenz in den Bunten Blättern gebracht hatte, schickte sich wohl nicht für einen Vordenker der Avantgarde …
Zwei Wörter nur, doch sagten sie mehr als lange Elogen: »Der Dirigent« titelte die Frankfurter Allgemeine, als sie am 18. Juli 1989 ihren Nachruf auf den zwei Tage zuvor verstorbenen Herbert von Karajan veröffentlichte. Karajan – sein Name war längst zum Synonym für einen ganzen Berufsstand geworden, er galt als oberste Instanz im Musikleben des 20. Jahrhunderts, das er geprägt hatte wie kein anderer. Niemand aus der Klassikbranche, der mehr Schallplatten produziert und höhere Verkaufszahlen erreicht, keiner, der die Perspektiven der Unterhaltungselektronik, der Vermarktung und der privatwirtschaftlichen Kulturförderung hellsichtiger erkannt und genutzt hätte. Und wer außer Karajan wusste mit seiner Ästhetik und Aura so sehr den Bedürfnissen der Nachkriegsgesellschaft zu entsprechen? Als eleganter Mann von Welt, charismatischer Magier des Taktstocks und omnipotenter Herrscher über die Heerscharen der Musiker entsprach er, den Theodor W. Adorno einmal als »Maestro des Wirtschaftswunders« bezeichnet hatte, vollkommen einem zeitgemäßen Ideal und Wunschbild.