»Einfach wundervoll«

Tschaikowskys Fantasie-Ouvertüre »Romeo und Julia«

Ölgemälde von Francis Bernard Dicksee, 1884
(Foto: Southampton City Art Gallery)

Die Fantasie-Ouvertüre Romeo und Julia wäre wohl nicht ohne die Begegnung zwischen Peter Tschaikowsky und den Musikern des »Mächtigen Häufleins« entstanden, einem Kreis junger russischer Komponisten in St. Petersburg, die einen nationalen Ton in die nach ihrer Meinung »verwestlichte« russische Musik bringen wollten. Im Frühjahr 1868 – Tschaikowsky unterrichtete seit drei Jahren am Konservatorium in Moskau Harmonielehre – besuchte der Komponist St. Petersburg und nutzte die Gelegenheit zu einer persönlichen Begegnung mit Mitgliedern jenes Kreises; fortan traf er sich während seiner Aufenthalte in St. Petersburg regelmäßig mit ihnen.

Ein strenger Kritiker

Vor allem einer aus der Runde des »Mächtigen Häufleins« sollte für Tschaikowsky eine wichtige Rolle spielen: Mili Alexejewitsch Balakirew, der Gründer und Kopf der Fünfergruppe. Er empfahl Tschaikowsky im August 1869, sich Shakespeares Liebestragödie Romeo und Julia anzunehmen und darüber eine Konzertouvertüre zu komponieren. Nachdem das Werk bereits beim Kopisten lag und ein Aufführungstermin feststand, schickte Tschaikowsky Balakirew Teile der Partitur zur Ansicht. Dieser bedankte sich überschwänglich – und sparte nicht mit Kritik: Die Melodie, die die Introduktion eröffnete, gefiel ihm gar nicht, sie habe »weder Kraft noch Schönheit«, den musikalischen Hauptgedanken hingegen empfand er eher als »schöne Einleitung«, denn als vollwertiges Thema, einzig das Seitenthema fand er »einfach wundervoll«. 

Die Uraufführung der Ouvertüre im März 1870 unter der Leitung von Nikolai Rubinstein in der Russischen Musikgesellschaft in Moskau brachte nicht den erhofften Erfolg. Tschaikowsky ging daran, das Stück noch einmal zu ändern. Dabei nahm er sich Balakirews Rat zu Herzen und ersetzte das ursprüngliche Introduktionsthema. Außerdem überarbeitete er die Durchführung. Balakirew zeigte sich zufrieden, nur die Coda hätte seiner Meinung nach besser und weniger konventionell sein können. Auch der Kritikerpapst Eduard Hanslick, der das Stück in der zweiten Version bei der Wiener Erstaufführung 1876 hörte, mokierte sich über das Ende, bei dem »Harfen-Accorde über monotonen Terzen- und Sextengezwitscher eine Theater-Apotheose vollführen«. Bei seiner zweiten Revision im Jahr 1880 fand Tschaikowsky dann den endgültigen Schluss für Romeo und Julia. In dieser Fassung eroberte die Komposition schließlich die Konzertsäle.

Tragische Liebe

Tschaikowsky zeichnet in seiner Fantasie-Ouvertüre, die der damals gängigen Ouvertürenform von Introduktion-Sonatensatz-Coda entspricht, nicht das Shakespearsche Drama nach. Vielmehr stellt er dar, aus welchen Elementen der Konflikt der Tragödie entsteht: Da sind zum einen die beiden verfeindeten Familien der Capuleti und Montecchi. Ihre Wut und ihren Hass bringt das Hauptthema in h-Moll mit seinen aggressiven Nonklängen, den aufgeregten Sechzehntelläufen und unruhigen, hin- und herpendelnden Achtelakkorden zum Ausdruck. Auf der anderen Seite steht das Liebespaar Romeo und Julia, das Tschaikowsky mit einem eigenen Themenkomplex charakterisiert: Die zarte Melodie, die in den Bratschen und im Englischhorn erklingt und durch das Intervall der fallenden Sexte geprägt ist, beschreibt die unendliche Sehnsucht, aber auch die Melancholie der beiden Liebenden. Ein weiteres, dem Liebespaar zugeordnetes Motiv sind die wiegenden Klänge der Streicher, die sich an das Romeo-Thema anschließen und das Liebesgeflüster der beiden symbolisieren sollen. Nach Tschaikowskys eigener Aussage hat er sich zu diesem »Liebesgurren« vom dem Zeisig-Lied, einem bekannten russischen Kinderlied, inspirieren lassen.

Vergebliches Kräftemessen 

Tschaikowsky lässt so zwei konträre Welten aufeinanderprallen: hier der martialische Bereich der Familienfehde, dort das intime Universum der Liebenden – unvereinbar in ihrem emotionalen Gehalt, weit auseinanderliegend in ihrer Tonalität (h-Moll und Des-Dur). Und dennoch: Bei der thematischen Gestaltung greift Tschaikowsky teilweise auf dasselbe Material zurück, so auf die auf- bzw. absteigende kleine Terz, die in beiden Themen strukturbildend wirkt, und die wiegenden Akkordfolgen, die sich sowohl im Haupt- als auch im Seitengedanken finden und lediglich durch ihre unterschiedliche Harmonik eine jeweils eigene Farbe erhalten. 

Ein weiteres wichtiges Element der Ouvertüre ist das Choralthema, mit dem die Introduktion beginnt. Es wird dem Pater Lorenzo, dem Vertrauten der beiden Liebenden, zugeordnet und tritt in der Einleitung in drei verschiedenen musikalischen Erscheinungen auf: als archaisch anmutender Kirchengesang, der von den Klarinetten und Fagotten intoniert wird, als Holzbläserchor, den muntere Begleitfiguren der Streicher umspielen, und schließlich als angstvolles Bittgebet, das in bedrohlich wirkende Streichertremoli gehüllt ist. Das Lorenzo-Thema der Introduktion greift Tschaikowsky in der Durchführung wieder auf und macht es zum »Gegenspieler« des Capuleti-Themas. Während die beiden Liebenden in der Durchführung nur mit ihrem »Liebesgurren« vertreten sind, gewinnt in der Reprise die sehnsuchtvolle Melodie von Romeo und Julia nochmals breiten Raum – überbordend, schwelgerisch, vom ganzen Orchester getragen. Doch das Capuleti-Thema setzt dem Liebesglück ein jähes Ende. Die Ouvertüre mündet in eine Coda, die den unerbittlichen Rhythmus eines Trauermarsches anstimmt. Noch einmal erhebt sich der Gesang der Liebenden, ehe das Werk mit einigen harten, synkopierten Akkordschlägen abrupt schließt. 

Nicole Restle

Peter Tschaikowsky 1869
(Foto: Archiv Berliner Philharmoniker)
Mili Alexejewitsch Balakirew 1860
(Foto: Wikimedia Commons)